Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falscher Ort, falsche Zeit

Falscher Ort, falsche Zeit

Titel: Falscher Ort, falsche Zeit
Autoren: Walter Mosley
Vom Netzwerk:
paar Jahre jünger als ich.
    »Was ist denn hier passiert?«, fragte ich.
    Als Antwort zog er seine ergrauenden Augenbrauen einen Zentimeter nach oben. Männer, deren Leben darin besteht, andere einzuschüchtern, entwickeln im Alter oft solche Feinheiten.
    »Stackman oder Bonilla?«, fragte ich. »So weit nördlich vielleicht auch Burnham.«
    Die Frage sollte eine unnötige Konfrontation vermeiden. Ich kannte die meisten Detectives der Morddezernate Manhattans.
    »Wer sind Sie?«, fragte der Einmeterachtzig-Bulle.
    Ich achte sehr genau darauf, wie groß Menschen sind. Das liegt daran, dass ich zwar ein geborener Halbschwergewichtler, jedoch nicht einmal einsfünfundsechzig bin.
    »Leonid McGill.«
    »Oh.« Der Polizist hatte ein teigiges Gesicht, in dem sein höhnisches Grinsen zu erstarren schien wie das einer Knetfigur.
    »Wer ist der zuständige Detective?«
    »Lieutenant Bonilla.«
    »Lieutenant? Dann ist sie wohl befördert worden.«
    »Dies ist ein Tatort.«
    »Apartment 6H?«
    Das Grinsen zeigte keinerlei Anzeichen, sich zu verflüchtigen. Er hielt sich ein Handy ans Ohr, drückte auf einen Knopf und murmelte etwas.
    »Verzeihung«, sagte ein Mann hinter mir. »Ich muss vorbei.«
    Ich machte einen halben Schritt nach vorn und drehte mich um. Vor mir stand ein weiterer fünfzigjähriger Weißer – circa 1,78. Dieser trug einen Kamelhaarmantel, ein rosafarbenes Hemd und eine zu enge Lederhose. Neben ihm stand ein dünnes blondes Kind. Vielleicht zwanzig, doch sie hätte auch siebzehn sein können. Sie trug nur einen hauchdünnen roten Fetzen, dessen Saum kaum ihre Scham bedeckte und der im Ausschnitt nur von ihrer Jugend gehalten wurde.
    An jenem Abend waren es höchstens sieben Grad.
    Der Mann machte den Fehler, sich an dem Polizisten vorbeidrängen zu wollen. Ein Stoß der steifen Hand des Ordnungshüters warf ihn beinahe um.
    »Hey!«, sagte Mr. Kamelhaar. »Ich wohne hier.«
    »Dies ist ein Tatort«, erwiderte der Polizist mit einemUnterton, der alle nur erdenklichen Unannehmlichkeiten versprach. »Gehen Sie mit Ihrer Tochter in ein Café oder ein Hotel.«
    »Für wen halten Sie sich?«, brüllte der empörte Freier.
    Das Mädchen packte seinen Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
    »Aber ich wohne hier.«
    Sie murmelte noch etwas.
    »Nein. Nein, natürlich möchte ich mit dir zusammen sein.«
    Sie strich ihm über die Wange.
    »Mr. McGill?«
    Eine Schwarze, Ende zwanzig, in einer schicken schwarzen Uniform, war hinter ihrem sadistischen älteren Kollegen hervorgetreten. Sie bekleidete irgendeinen höheren Rang, war jedoch noch kein Sergeant.
    »Ja?«
    »Lieutenant Bonilla hat mich geschickt, um Sie zu holen.«
    Der Blick der Frau hatte etwas … Neugieriges.
    »Danke.«
    Sie drehte sich um. Ich folgte ihr.
    »Was zum Teufel geht hier vor?«, polterte der wütende Anwohner. »Wieso darf der rein, und wir müssen hier auf der Straße bleiben?«
    »Hören Sie zu, Mister«, sagte der Polizist mit der Wampe. »Sie müssen …«
    Die Glastür fiel hinter uns zu, so dass ich nicht mitbekam, was danach geschah. Aber auch ohne den weiteren Dialog mitzuhören, kannte ich seinen Anfang – und sein Ende.
    Der Mann hatte die Frau wahrscheinlich in einem halblegalen Club in einem der äußeren Stadtbezirke kennengelernt. Sie hatten ein paar Linien Koks gezogen und sich auf einen Preis geeinigt; wahrscheinlich hatte er einen Teil oder auch die komplette Summe sofort begleichen müssen, bevor sie die Dienste des Taxi-Service in Anspruch nehmen konnten, der sie zu dem Haus gebracht hatte. Sie würde sich allerdings bald verdrücken, weil der Freier mit seinem Steifen in der Hose nicht besonders klar dachte. Der Bulle an der Tür würde demnächst die Geduld verlieren und per Telefon Verstärkung rufen. Das Mädchen würde in die Nacht verschwinden, der Mann wegen Störung einer polizeilichen Ermittlung in einer Arrestzelle landen.
    In den nächsten Wochen würde er in den Club zurückkehren, wo er sie getroffen hatte, um entweder das vorgestreckte Geld zurück oder den bereits bezahlten Sex zu verlangen. Wenn er dann mehr Glück hatte als jetzt, würde er sie nicht finden.
     
    Die junge Polizistin brachte mich zu einem Fahrstuhl und drückte auf den Knopf für den sechsten Stock. Ich hegte die irrationale Hoffnung, dass das Verbrechen nichts mit meiner Mission zu tun hatte.
    »Sie sind also der berüchtigte Leonid Trotter McGill?«, fragte die Polizistin. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht und ein Lächeln, das ihr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher