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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut
Autoren: Lucette ter Borg
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Fuß von hier? Da sind wir doch einer älteren Dame begegnet? Sie hat nicht gegrüßt, sondern vor sich hin geschimpft. Sie hatte einen Stock dabei, mit dem sie Steine vom Weg schlug. Ich habe noch gesagt: ›Das sollten sie nicht tun in den Bergen. Das ist gefährlich.‹ Nein, sie sah nicht froh aus, aber sie lief mit sicherem Schritt.«
    Â»Ah«, sage ich erleichtert. »Das ist meine Schwester.«
    Ich bedanke mich bei dem Paar und eile, so gut es geht, über die spitzen Steine voran. Die Sonne ist jetzt ganz verschwunden. Die Schäfchenwolken, die zu Wellen geworden waren, haben sich in ein einziges großes, graues Meer verwandelt. Alles um mich herum ist grau, die Steine, auf denen ich laufe, der Hang, an dem ich mich festhalte, die Luft, die ich einatme. Kälte senkt sich herab. Nebel durch die tiefer hängenden Wolken.
    Nebel in den Bergen, weiß ich von früher, von Papa, ist viel gefährlicher als Nebel im Flachland. Wenn man in den Bergen in Nebel gerät, sagte Papa, sollte man am besten bleiben, wo man ist, und sich nicht vom Fleck rühren. Warte, bis die Bewölkung sich lichtet, und geh dann erst weiter. Denn bei Bergnebel beträgt die Sicht manchmal weniger als zwei Meter.
    Aber ich kann nicht warten. Ich kann mir nicht einfach einen Felsbrocken suchen und mich draufsetzen, bis die Sonne wieder scheint. Ich muss Sigrid finden und sie zurückholen. Bei dem schlechten Wetter, das aufzieht, ist es unverantwortlich, den Hang hinunterzusteigen, auch wenn Sigrid noch so gute Schuhe und eine noch so warme Hose trägt.
    Es weht jetzt stärker. Tropfen fallen wie Quecksilberkügelchen auf mich herab und versinken in dem Schutt um mich herum. Ich hole meinen Regenmantel hervor und wickle ihn aus. Ich mache ein paar Schritte, aber der Mantel ist eng, enger als mein Rock. Er behindert mich beim Laufen. Und mein Rock ist auf einmal schwer. Ich muss mich fest gegen den Boden stemmen, als ein Windstoß mir direkt ins Gesicht schlägt.
    Der Himmel ist inzwischen braunviolett geworden. Ein Blitz taucht den Bergkamm in ein gespenstisch bleiches Licht. Ich zähle die Sekunden, und bei neun kracht der Himmel so in seinen Fugen, dass es klingt, als würde ein ganzer Wald gefällt. Der Donner rollt an den Gipfeln hinunter und hallt von der anderen Seite des Tals wider. Das Geräusch kommt von überall.
    Ich halte mir die Ohren zu. »Drei Kilometer entfernt«, murmele ich vor mich hin, und das beruhigt mich ein wenig. Das Gewitter ist noch nicht über meinem Kopf. Ich habe noch ein bisschen Zeit. Ich muss weiter, auch wenn ich fast nichts sehe und der Pfad immer steiler wird. Warum haben sie hier keine Seile gespannt, an denen man sich festhalten kann? Das ist doch kein simpler Wanderweg, wie ich gedacht habe. Das ist kein Weg, den jeder alte Trottel gehen kann. Das ist ein Gefälle von gut und gerne fünfzig Prozent.
    Sigrid. Ich muss Sigrid finden. Ich rufe ihren Namen.
    Wieder ein Blitz. Ich warte und zähle. Acht Sekunden später kracht es. Ich rufe erneut: »Sigrid!«
    Es ist hell, dann wird es wieder dunkel, und sieben ­Sekunden später folgt der Knall. So zähle ich weiter bis sechs, fünf, und auf einmal sind es nur noch drei Se­kunden.
    Â»Bitte, lieber Gott«, ich bete, und inzwischen weine ich auch, »vergib mir. All die hässlichen Dinge, die ich zu meiner Schwester gesagt habe. Bitte mach, dass sie ­sicher zurückkommt, dass ihr nichts passiert.«
    Der Regen wird noch stärker. Dicke, schwere Tropfen strömen herab. Meine Schuhe sind durchweicht und rutschen auf den losen Steinen weg.
    Ich schreie wieder Sigrids Namen.
    Beim nächsten Lichtblitz sehe ich sie plötzlich. Zwischen all dem Grau heben sich das blonde Haar und ihre Strickjacke grell ab. »Sigrid!«, schreie ich noch einmal.
    Ich strauchele vorwärts. Ich falle auf den Hintern und rutsche ein Stück den Hang hinunter. Mein Regenmantel reißt bis zu den Schultern auf. Ich spüre einen scharfen Schmerz am Gesäß. Egal. Ich habe keine Angst. Ich muss zu meiner Schwester. Ich muss dafür sorgen, dass Sigrid keine Dummheiten macht. Dass ihr nichts passiert. Papa würde so böse auf mich werden. Er würde es mir nie ­verzeihen, wenn Sigrid etwas zustoßen würde.
    Und dann bleibt Sigrid stehen. Im Licht eines Blitzes sehe ich, dass meine Schwester sich umdreht. Sie streckt mir den Arm entgegen und ruft
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