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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut
Autoren: Lucette ter Borg
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Bahn?«
    Â»Fünfunddreißig.«
    Â»Puh.« Sigrid mustert die Reihe der Wartenden. »Wie es aussieht, fahren wir mit vierzig Leuten nach oben. Reißt das Seil da nicht? Sind nicht sehr viele Dicke bei unserer Fuhre dabei?«
    Â»Es gibt eine Waage«, sage ich. »Alle, die mitwollen, müssen drauf. Wenn das Maximalgewicht erreicht ist, werden sie die Türen schon schließen.«
    Vorsichtig steige ich vom festen Boden in die Gondel. Die Waage zeigt vierundneunzig Kilo an. Ich trage heute viel Kleidung, denn in den Bergen ist es kalt, man muss auf alles vorbereitet sein. Ich bin schon schwerer gewesen, in dem Jahr, als ich mich nicht mehr mit Sjors in Hotels traf. Da habe ich alles verputzt, was nicht niet- und nagelfest war, es war mir auch egal.
    Ich spüre eine klamme Hand. Sigrid, igitt. »Guck nicht so ängstlich«, sage ich. »Du kannst dich doch vorn hinstellen, dann schaust du immer mit dem Berg mit nach oben. Dann hast du nicht das Gefühl, dass du tief fallen könntest.«
    Â»Lieb von dir, dass du daran denkst«, antwortet ­Sigrid. Schweiß perlt auf ihrer Stirn.
    Ich blicke meiner Schwester nach, wie sie sich in der Kabine nach vorn drängt, Menschen beiseite schiebend, Entschuldigungen murmelnd. Als sie sich einmal ihren Platz ganz vorn erkämpft hat, steht sie da, als wären ihre Beine in dieser uneleganten Cordhose am Boden festgewachsen. Auf dem Rücken von Sigrids beiger Sommerbluse zeichnen sich dunkle, feuchte Flecke ab. Sigrid winkt. Ich winke matt zurück.
    Ja, ja, gut so, bleib du nur schön da stehen.
    Natürlich bin ich lieb zu dir. Ich bin zu allen lieb. Ich renne und mache und stehe für alle bereit.
    An das hintere Panoramafenster gedrückt, halte ich mich am Geländer fest. Um mich herum wimmelt es von Kindern und Bergsteigern. Ich gehe mit meinem Gesicht ganz nah an die Scheibe heran. Ich will alles aufsaugen, die Tiefen, die zackigen Bergkämme, Mittenwald, das liliputartig wird, und die Menschen da unten, die sich langsam in Ameisen verwandeln. Ich will vergessen, dass Sigrid mich aufs Kreuz gelegt hat.
    Herrlich, so draußen zu sein.
    Ein Summer ertönt. Der Schaffner schiebt die Türen der Kabine zu, sichert sie mit einem Haken und winkt einem Mann in einem Glashäuschen. Mit einem Ruck setzt sich die Karwendelbahn in Bewegung. Schreckensschreie und Gelächter sind zu hören. Ich meine, Sigrids Stimme zu erkennen.
    Fürchte du dich nur. Ich stehe breitbeinig da, und ich stehe gut. Diesmal helfe ich dir nicht aus der Patsche. Ich fühle mich gerade so richtig wohl.
    Mit dem Rücken zur Schweberichtung schaue ich zu, wie die Kabine das dunkle Maul der Station verlässt. Schneller als erwartet gleiten die Baumwipfel unter mir vorbei. Aus einem Meer von Tannenbäumen werden vereinzelte Inseln, kleine Grüppchen, einsame Bäume. Dann hängen wir schon über den Felsen, und alles wird grau. Es weht ein kräftiger Wind, die Gondel schaukelt hin und her.
    Ich bin erstaunt über das Grau der Felsen, die aus der Entfernung silbrig weiß ausgesehen haben. Unten im Tal habe ich an Schnee im Sommer gedacht, und mein Herz schlug schneller, wie es öfter geschieht, wenn man Dinge an Orten vorfindet, wo man sie nicht vermutet. Jetzt, da die Felswand unter meinen Füßen hindurchschwebt, zeigt sich, dass es gar kein Schnee ist, sondern graue Brocken und Schotter.
    Zwischen Himmel und Erde hängend, umgeben von diesen Millionen Jahre alten, steinernen Riesen, wirkt alles so nichtig.
    Soll das Einäuglein doch in die große Stadt ziehen, wenn es unbedingt will. Ich werde die Einkünfte nicht vermissen.
    Karlchen ist tot, und nächstes Jahr werde ich sein Grab räumen lassen.
    Otto ist Otto, mein Herz wird immer für ihn schlagen, und wenn ich an ihn denke, wird es immer irgendwie wehtun.
    Und Sigrid? Sigrid mag lügen und sich winden, so viel sie will. Sie macht mich nicht unglücklich damit. Guck, da steht sie, ganz allein mit ihrer Höhenangst.
    Ich fühle mich leicht, fast so leicht wie in dem Jahr, als ich mit Sjors zusammen war. Aber damals war ich auf Diät. Möhren und Äpfel und zwei Cracker zum Frühstück. Damals nahm ich drei Kilo in der Woche ab. Vor lauter Glück.
    Â»Wo ist dein Hintern geblieben?«, fragte Sigrid und legte ihre Hand auf meine Hüften.
    Ich schlug die Hand weg. Mein Hintern? Das würde ich ihr gerade auf die Nase
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