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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut
Autoren: Lucette ter Borg
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überhaupt keine Leserin bin.
    Im Regal in unserem Wohnzimmer steht zwischen Sjors’ Büchern über Motorradtechnik, Geschichte und die größten Brandkatastrophen aller Zeiten eine Reihe mit Romanen. Aus dieser Reihe habe ich vor der Abreise blindlings ein Exemplar gezogen, das Foto auf dem Umschlag betrachtet und gedacht: Ein Clown, vielleicht muntert der mich ja auf.
    Seit dem Gespräch mit Krüske weiß ich, dass etwas geschehen muss. Dass ich hinter den Dingen suchen muss. Möglicherweise liegt auf der anderen Seite eine ganz neue Welt, die ebenso voller Verheißungen ist wie die Welt, an die ich gewöhnt bin. Ich muss mich nur öffnen, mit dem Daumen den Nabel der Orange aufbrechen und dann an der Schale ziehen.
    Ã–ffne dein Herz, sage ich in letzter Zeit manchmal zu meinem Spiegelbild. Beim ersten Mal musste ich weinen. Dass ich, Sigrid Raffelsberger, Konzertmeisterin und Solistin, die ich schon seit mehr als fünfzig Jahren nichts anderes tue, als mein Herz zu öffnen, mir einmal solche platten Dinge sagen würde.
    Ich kann die Sprüche der Kollegen im Orchester träumen. Dass das Glas halbvoll oder halbleer ist, dass die Tutti gar nicht so übel sind, und das ist dann noch höflich ausgedrückt. Aber bei mir ist das Glas ganz leer, und ich habe es in hohem Bogen über meine Schulter ge­worfen.
    Erst als ich das Buch in meine Tasche steckte, schaute ich nach, wer der Autor war. Es war ein Mann, über den man in den letzten Jahren überall stolperte. Ständig war er mit seinem großen Mund im Fernsehen, Baskenmütze auf dem Kopf, eine Gauloise an der Unterlippe klebend. »Soll er doch nach Frankreich abhauen, wenn er nichts mit Deutschland am Hut hat«, sagte ich zu Sjors, während ich den Tisch abräumte.
    Â»Wenn du mal einen Moment deine Klappe hältst«, antwortete Sjors vom Sofa aus, »dann kann ich hören, was er sagt. Dieser Mann ist euer Gewissen, weißt du.«
    Â»Mein Gewissen?«, lachte ich. »Ich bin nicht mal in diesem Land geboren.«
    Â»Ich habe Lust auf einen Ausflug morgen.« Valentine redet laut. Sie hält den Kopf schräg, mit Hilfe eines Lippenstiftspiegels betrachtet sie in dem großen Spiegel des Frisiertisches das aufgesteckte Haar an ihrem Hinterkopf. Valentine verschiebt zwei Kämme, steckt eine Nadel um.
    Â»Ich fühle mich gut«, sagt sie.
    Â»Aber ich nicht so«, antworte ich.
    Â»Nachher ist es bestimmt besser.«
    Â»Woher willst du wissen, wie ich mich nachher fühle?«, frage ich.
    Valentine zuckt mit den Schultern. »Ich habe Lust auf einen Ausflug.« Sie legt den Spiegel beiseite und greift nach einer Informationsbroschüre des Hotels. »Ich will mir die Beine vertreten.« Sie blättert von hinten nach vorn. »In ein paar Tagen sind wir schon wieder weg. Und wo geht es dann hin, Sigi? Was sind deine Pläne, und passe ich da auch hinein? Fahren wir nach Hause oder willst du noch weiter nach Süden?«
    Valentine lacht gackernd.
    Ich antworte nicht.
    Â»Dann kannst du zu noch einem Geigenexperten. Kannst du wieder alles aus dem Koffer holen.« Valentine hebt die Finger: »Der erste, der zweite, der wievielte ist das jetzt?«
    Â»Halt den Mund«, entgegne ich.
    Â»Vielleicht sagt dort ja jemand, dass das alles wahr ist. Eine Weltsensation. Siehst du die Schlagzeilen schon vor dir? Hengeloer Geigerin entdeckt Stradivari. Für einen Apfel und ein Ei von einem Zigeuner gekauft.«
    Valentine klatscht in die Hände.
    Ich drehe mich auf die Seite, mit dem Gesicht zur Wand. Direkt unter unserem Fenster höre ich das Scharren von Terrassenstühlen und -tischen. Das Wetter ist zu schön geworden, um drinnen zu sitzen nach dem vielen Regen, die Menschen stürmen hinaus. Ich höre immer mehr Männer nach Bier schreien. Ich höre Kellnerinnen, die mit immer lauteren Stimmen die Bestellungen servieren.
    Wenn es nur beizeiten still ist heute Abend.
    Wenn dieser Lärm nur nicht die ganze Nacht dauert.
    Dass ich mir anhören muss, wie sich diese bayerischen Trunkenbolde übergeben, über Stühle stolpern und wie ihre Frauen dabei kreischen vor Lachen.
    Zum Glück hat Valentine Schlaftabletten dabei.
    Â»Wollen wir ins Geigenbaumuseum?«, fragt Valentine. »Da zeigen sie, wie eine Geige hergestellt wird, und es hängen auch eine Menge alte Geigen da, sogar eine von Matthias Klotz persönlich, nach einem Vorbild von
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