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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut
Autoren: Lucette ter Borg
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binden.
    Ein Jahr nach Karels Rückkehr aus dem Lager lud Schwager Sjors mich zu einem Ausflug ins Weberhäuschen in Almelo ein. Es war ein winziger Ausflug, aber ich ging darauf ein, denn oh, wie hatte ich es zu Hause satt mit Karel, der nur noch im Bett lag und ein Schatten von dem war, was er früher alles herumkrakeelt und getan hatte.
    Ich stieg zu Sjors aufs Motorrad, und so knatterten wir in einer halben Stunde nach Almelo. Bei dem zum Museum umgebauten Bauernhof tranken wir Kaffee unter blühenden Kirschbäumen, und Sjors las mir aus ­einem Museumsführer vor, den er in der Motorradtasche mitgebracht hatte. Ich weiß noch, wie erstaunt ich war, dass er so eine schöne Stimme hatte. Wenn Sigrid in der Nähe war, hörte ich Schwager Sjors eigentlich nie reden.
    Aber ja, wen hört man schon reden, wenn Sigrid in der Nähe ist? Wer hat eine Chance? Es ist immer diese eine Raffelsberger und sonst niemand.
    Ich sagte etwas Nettes über seine Stimme. »Deine Schüler hängen dir sicher an den Lippen, Schwager Sjors«, sagte ich.
    Sjors hielt inne und sah mich an. Und so begann das, wonach ich mich mein Leben lang mit aller Macht gesehnt hatte.
    Durch einen Spalt im Fenster der Seilbahn dringt kalte Luft herein. Ich zittere und hole einen beigen Lammwollpullover aus meiner Tasche.
    Â»Viele Schichten«, sagte Sigrid heute Morgen beim Ankleiden. »Oben kann es ziemlich kühl sein. Berge sehen zwar prächtig aus, aber das Wetter kann im Nu umschlagen.«
    Ja, ja, dachte ich. Tu du nur, als ob du die einzige wärst, die in den Bergen geboren ist.
    Ich zog ein Hemd an, eine langärmlige Bluse und ­einen weit fallenden Wollrock, der bei jedem Schritt locker nachgab.
    Â»Ein Rock?«, fragte Sigrid. »Warum ziehst du keine Hose an? Das läuft sich doch viel leichter, und wenn der Wind von unten kommt …«
    Â»Ich trage keine Hosen«, sagte ich. »Finde ich nicht ladylike. Werde ich auch nie tragen.«
    In meiner Tasche habe ich einen Pullover und einen rosa Plastikregenmantel, den ich bei »Hema« gekauft habe. So ein praktisches Ding. Wiegt nichts. Ich kann ihn auf Portemonnaie-Format zusammenfalten, und wenn ich ihn auspacke und überstreife, bin ich von Kopf bis Fuß gegen den Regen geschützt.
    Bei den Schuhen war ich unschlüssig. Schuhe mit Absätzen? Ausgeschlossen. Und in meinen Ballerinas spüre ich jedes Steinchen. Ich suchte nach einem Schuh mit ­einer festen, aber biegsamen Sohle. Schließlich entschied ich mich für meine gelbgrünen Slipper. Die sind aus Segeltuch mit Lederverstärkungen am Knöchel und an der Spitze. Es ist zwar nicht das charmanteste Schuhwerk, das ich bei mir habe, dafür jedoch bequem und trittsicher.
    Die Kabine der Karwendelbahn ruckelt erneut. Ich drehe mich um. Genauso ein Maul wie das, was wir unten an der Talstation hinter uns gelassen haben, taucht vor mir auf. Wir steuern leise knarrend darauf zu. Die Fahrt hat alles in allem zehn Minuten gedauert, in denen wir fast anderthalb Kilometer gestiegen sind. Zehn Minuten, in denen ich das Geschnatter um mich herum nicht einmal bemerkt habe.
    Aber jetzt bricht der Lärm los. Trillerpfeifen ertönen. Eine Klingel. Mit einem Ruck schieben sich die Türen auf. Eine laute Stimme donnert: »Bergstation Karwendelspitze. Alles aussteigen!«
    Alle drängen hinaus. Außer Sigrid. Meine Schwester klammert sich noch immer an das Geländer vorn in der Kabine.
    Â»Das war phantastisch, was?«, sage ich und gebe ihr einen Stups.
    Sigrid nickt. Ihr Gesicht ist leichenblass, ihre Schultern sind steif. Sigrid riecht nicht frisch, nein.
    Â»Was für eine schöne Aussicht«, fahre ich fort, »und hast du diese Felsen gesehen, so hoch?«
    Â»Ich hätte es um nichts in der Welt missen wollen«, antwortet Sigrid.
    Â»Du kannst jetzt loslassen«, sage ich. »Wir sind da.«
    Â»Oh, natürlich.« Sigrid lacht. Sie lässt eine Hand los und dann vorsichtig auch die andere. »Hast du die zwei Gämsen über das steile Stück springen sehen?«
    Â»Zwei Gämsen?«, frage ich. »Klar hab ich die gesehen.«
    Ich habe keine Gämse gesehen, aber ich habe keine Lust auf eine Diskussion. Und im Übrigen lügt Sigrid doch immer, dass sich die Balken biegen. Gämsen sind in den Alpen längst ausgestorben, genau wie Bären, Luchse und Wölfe.
    Es ist kühl auf dem Gipfel. Der kräftige Wind
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