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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut
Autoren: Lucette ter Borg
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1 Sigrid
    Halb zehn im vorderen Zugteil ist ausgemacht. Meine Schwester kann es gar nicht verfehlen, denn der Bummelzug nach Zutphen hat nur einen Wagen. Als ich Valentine in der Ferne auf dem Bahnsteig von Delden stehen sehe, schiebe ich das Fenster herunter und zwänge meinen Kopf und einen Arm hinaus. Ich winke und rufe ihren Namen, aber Valentine winkt nicht zurück, sie hat beide Hände voll. Tine hat einen Familienkoffer dabei, ein Beautycase, so groß wie ein Umzugskarton, und eine Handtasche über der Schulter. Vor ihren Füßen steht eine überquellende Einkaufstasche.
    Was um Himmels willen hat sie vor? Wir gehen doch nicht auf Expedition? Wir fahren einfach eine Woche in den Urlaub.
    Valentines Stimme klingt schrill. »Ich kann das nicht alles allein schleppen! Hilf mir mal!«
    Ich ziehe den Kopf wieder hinein, vorsichtig, damit meine Ohren nicht an der scharfen Fensterkante hängenbleiben. Immer rumkommandieren. Wenn Madame nur nicht so viel Zeug mitnehmen und zusehen würde, dass sie allein zurechtkommt.
    Ich reise leicht, mit einem kleinen Koffer, den Geigenkasten auf dem Rücken und eine Handtasche über die Schulter geschwungen. Eine Hand frei, um mein Portemonnaie oder Taschentuch hervorzuholen, ohne meinen Schritt mäßigen zu müssen.
    Ich eile zur Plattform des Zuges und springe das Trittbrett hinunter. »Ich helfe meiner Schwester schnell in den Zug, ja?«, rufe ich dem Schaffner zu.
    Â»Du lieber Gott«, sage ich zu Valentine. »Wie hast du denn den ganzen Krempel hier hergekriegt? Bist du mit dem Taxi gekommen?«
    Â»Die Schorredijkjes haben mich mit dem Auto hergebracht«, antwortet meine Schwester. Sie küsst mich hastig. »Solche Engel.«
    Â»Aber im Krieg auf der falschen Seite.« Ich nehme den Koffer und die Einkaufstasche, die mit Lebensmitteln, Vorratsdosen, Servietten, Trinkbechern, Besteck und ­einer Thermoskanne gefüllt ist. »Auf Reisen braucht man kein Essen«, schnaufe ich, während ich das Gepäck über das Trittbrett des Zuges hieve. »Man sitzt den ganzen Tag faul auf dem Hintern. Womöglich musst du noch im Zug aufs Klo und pinkelst dir in einer Kurve auf die Schuhe.«
    Valentine zuckt mit den Schultern. »Jetzt ist Urlaub«, sagt sie und lächelt mir vage zu, als ob sie in Gedanken ganz woanders wäre. Meine Schwester schaut zu der weißen, fächerförmigen Spur, die zwei Düsenjäger in den blauen Himmel ziehen. Wie strahlend blau ihre Augen im Sonnenlicht sind, denke ich und wische mir den Schweiß von der Stirn. »Kommst Du?« Ich strecke meine Hand aus und helfe ihrem schweren Leib in den Zug.
    Als wir unseren Platz am Fenster eingenommen haben, sage ich: »Nachher in Arnhem müssen wir in Wagen vier, Abteil sechs. Da habe ich zwei Plätze reserviert. Mir wird schlecht vom Rückwärtsfahren, also wenn es dir nichts ausmacht, setze ich mich mit dem Gesicht nach vorn.«
    Â»Ist gut«, Valentine nickt. »Aber unterwegs tauschen wir. Sonst ist es ungerecht.«
    Ich zerre noch ein wenig an dem Gepäck, das im Gang steht, damit die anderen Reisenden nicht darüber stolpern. Die Sonne scheint mir direkt ins Gesicht. Ich runzle die Stirn und schirme meine Augen mit der Hand ab wie die Indianer in den Karl-May-Büchern, die ich früher verschlungen habe. Ein bohrender Schmerz zieht mir von den Oberschenkeln in den Bauch, als würde ich meine Tage kriegen. Ich setze mich anders hin, denn ich habe nichts dabei und Valentine auch nicht. Dürfte ja wohl auch nicht nötig sein mit dreiundsechzig? Einfach nicht drauf achten, dann lässt der Schmerz schon nach.
    Valentine plaudert über eine Klavierschülerin, Brigit, ein untalentiertes Pickelgesicht, das gestern bei ihr zu Besuch gewesen ist. Ich begreife nicht, dass meine Schwester ihre Zeit mit Halbtalenten verschwendet. Die Schüler, die zu mir kommen, müssen immer erst vorspielen, bevor ich sie annehme. Wenn ich nicht kritisch bin, wer dann? Ihre Eltern bestimmt nicht.
    Auf der Weide stehen schwarzbunte Kühe, die Köpfe im saftigen Gras – und wenn sie müde sind vom Fressen, legen sie sich hin und träumen von noch mehr Gras und von einem Stall, in dem sich viele warme Leiber zusammendrängen. Wahrhaftig, jetzt ist Urlaub. Ich lege meine Hand auf die Stelle, an der mein Bauch wehtut, und versuche, das euphorische Gefühl von gestern Abend zurückzurufen, als ich meinen
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