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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut
Autoren: Lucette ter Borg
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ist.«
    Nein, das weiß ich nicht. »Wieso keine Zeit?«, sage ich. »Vor vier Tagen hast du noch bei mir Apfelkuchen schnabuliert.«
    Â»Oh, darf man sich heutzutage nicht mal mehr entspannen?«
    Â»Gut«, sage ich, »aber nachher tauschen wir. Ich will auch mal als Erste sehen, was kommt.«
    Sigrid starrt mich an, wie der rote Kater der Nachbarn einen Hund auf der Straße anstarrt. Kann sie nicht irgendwo anders hinschauen? Zu den Fabrikschornsteinen zum Beispiel, an denen wir vorbeifahren? Sie sitzt doch mit der Nase in der richtigen Richtung.
    Warum spricht Sigrid so wenig? Auf jede Frage, die ich stelle, kriege ich nur ein »Ja« oder »Nein« zur Antwort. Kann sie nicht ein kleines bisschen an ihre Reisegesellschaft denken, also an mich? Ich zwänge mir einen Streifen trockene Hühnerbrust hinein.
    Warum hält sie diesen Geigenkasten so krampfhaft zwischen den Beinen? Ist da Gold drin oder was?
    Ich finde, dass sie es mir schon auch ein wenig behaglich machen sollte.
    Vielleicht hat sie Streit im Orchester gehabt?
    Bestimmt.
    Ich beuge mich vor, um mir etwas zu trinken zu holen, und schiebe den Geigenkasten zur Seite.
    Â»Pass doch auf!« Sigrid zieht den Kasten zurück.
    Â»Schon gut, tut mir leid«, sage ich. »Warum nimmst du deine Geige auch mit? Auf Reisen kann sonstwas ­passieren – nachher bricht sich noch jemand das Genick.«
    Â»Ein guter Geiger muss täglich üben«, sagt Sigrid. »Wenn ich drei Tage nicht übe, merkt es mein Publikum. Wenn ich zwei Tage nicht übe, meine Kollegen, und wenn ich einen Tag nicht spiele, merke ich es selbst.«
    Â»Wann willst du denn üben?«, frage ich. »Du hast ein Hotelzimmer reserviert. Willst du alle wach halten? Es gibt auch Gäste, die sich mittags hinlegen oder ausschlafen möchten.«
    Â»Na und?«, sagt Sigrid. »Na und?«
    Was ist das für eine Antwort?
    Der Zug macht eine sanfte Kurve, ein zweites Gleis fügt sich zu unserem, ein drittes, ich kann nicht mehr mitzählen, so viele Gleise. Wir passieren einen Rangierbahnhof und überholen einen Güterzug, der etwas Flüssiges, Glühendes geladen hat, denn zwischen den Spalten der rostfarbenen Luken sehe ich das Orangegelb von Feuer. Dann kommen wir durch ein Wohngebiet. Der Zug fährt jetzt langsam, so wie ich laufe, wenn ich einkaufen gehe. Ich sehe graue Balkons mit Wäsche an der Leine, Straßen ohne Bäume, kaputte Bürgersteige, Kneipen mit Reklameschildern von Königspils und undurchsichtige Fenster. Die Gärten hinter den Häusern münden in Schlackehalden, noch mehr Rangieranlagen und Fabriken. »Mein Gott, wenn du da wohnst«, sage ich und denke an die Amsel in meinem großen Garten, die jeden Tag Punkt neun bereitsitzt für die Brotrinden, die ich ihr bringe.
    Dann taucht eine rosa gestrichene Stadtvilla aus der Gründerzeit auf, mit einem Schieferdach, so hoch wie eine Kathedrale. »Das passt ja wie die Faust aufs Auge«, sage ich.
    Â»Sonderbar«, sagt Sigrid, »wie dieses Haus die Elendsjahre überlebt hat. Dieses rosa Haus bringt noch stärker zur Geltung, wie armselig die anderen Häuser sind.«
    Â»So ist es mit allen schönen Dingen«, sage ich, »und auch Freundlichkeit gehört dazu. Je schlechter es einem geht, desto mehr fällt einem Freundlichkeit auf. Mir zumindest.«
    Gestern war ich zu Hause. Ich füllte den Teekessel mit Wasser, schaltete den Gasherd auf kleine Flamme und hielt ein Streichholz an den Brenner. Welche Tassen sollte ich nehmen? Die normalen Bauerntassen oder die schönen Meissener? Ich drehte den Hahn zu und stellte den Kessel aufs Feuer.
    Die Bauerntassen stehen in dem Regal über der Spüle. Direkt vor meiner Nase. Sachlich, rustikal. Das Meissener dagegen, das Klingeln des Löffels, der den Rand des Porzellans berührt, das sandig-singende Geräusch der Tasse, die auf die Untertasse zurückgesetzt wird. Als ob sich die Melodie einer Klaviersonate in Stücke Porzellan verwandeln würde.
    Während ich wartete, bis das Wasser kochte, zupfte ich tote Blätter aus dem Sellerie und der Petersilie, die ich auf dem Fensterbrett züchte. Und wenn Brigit das Meissener nun fallen ließe? Wenn ich nun stolpern und mir das Tablett aus den Händen fahren würde?
    Ich bin in letzter Zeit nicht mehr so trittsicher. Was wäre dann?
    Ich zerkrümelte das dürre Laub und streute es über
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