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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut
Autoren: Lucette ter Borg
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anders, in dem Orchester mit Papa und kurz danach, als ich mit Karel vorm Altar stand. Jetzt dagegen … Man könnte meinen, dass ich Zucker habe. Mein Körper funktioniert irgendwie nicht mehr richtig. Und das ist wie … kennst du dieses Gefühl?«
    Â»Nein«, antworte ich. »Dieses Gefühl kenne ich nicht. Mein Körper ist immer noch fit. Wenn ich ein schönes Feld sehe, werfe ich gleich meinen Drahtesel an den Rand, hops, und schlage ein Rad.«
    Valentine schüttelt den Kopf. »Manchmal habe ich das Gefühl, als ob in mir drin ein einziges großes Loch wäre: Gallenwege, Magenwand, Lebermembranen, Nervenzweige, alles ist durchgenagt, hängt lose und sucht Halt. Meine Füße tun weh, oder so, und dann denke ich: Ach komm, ich nehme noch ein Häppchen, es sieht ja niemand. Essen gibt Halt im Magen. Man gönnt sich ja sonst nichts.«
    Â»Ja, man gönnt sich sonst nichts.«
    Â»Schokolade«, sagt Valentine. »Nachts. Neben meinem Bett. Und wenn es nur ein halber Riegel ist. Oder Käse. Ein paar Würfel. Käse kann doch nichts schaden? Oder ein Spiegelei mit einem Bierchen dazu.«
    Â»Es ist schlecht«, sage ich. »Das weißt du. Vor allem, wenn du im Bett liegst. Deine Verdauung, alles ruht, nichts wird weitertransportiert. Wundert es dich, dass dir die Füße wehtun, wenn du ein Stückchen läufst? Dein Knochengerüst ist nicht für die Kilos berechnet, die du mit dir herumschleppst.«
    Valentine starrt auf ihre Schuhspitzen. Ihre Wangen hängen wie Lappen herunter. Ihr Rücken krümmt sich. Wenn sie sitzt, stehen ihre Beine so weit auseinander, dass sie Einblick bis zu ihren Schenkeln bietet.
    Ich beuge mich zu ihr vor und ergreife ihre geschwollenen Hände. Ich streichle die Runzeln, die Leberflecke und die Adern, die sich wie lila Regenwürmer über ihren Arm schlängeln. »Es ist gut, Tine«, sage ich. »Reg dich nicht auf. Diät halten können wir immer noch nach dem Urlaub. Wir werden uns schön verwöhnen und keinen trüben Gedanken nachhängen. Wir lassen uns von niemandem zurechtweisen, und wir machen eins aus: Wer die Worte Diät oder Abnehmen in den Mund nimmt, hat verloren. Der muss Torte spendieren.«
    Valentine lächelt. Ihre Augen glänzen wieder. Ihre Schenkel schließen sich. Ihr Rücken streckt sich. Ich lasse ihre Hände los und streichle ihr über die Wange.
    Â»Magst du einen Kaffee?«, fragt sie. Ohne die Antwort abzuwarten, zaubert sie die Thermoskanne aus der Einkaufstasche hervor. Dazu ein Döschen mit Zucker und Milchpulver und zwei Plastikbecher. Sie schenkt ein und hält mir einen Becher hin. »An Löffel habe ich auch gedacht.«
    Ich sauge den Geruch von frischem Kaffee ein und entspanne mich. Die Gedanken von vorhin lösen sich auf in dem duftenden Aroma, das das Abteil erfüllt. Die Übelkeit ist verschwunden. »Wie gut du für mich sorgst«, sage ich. »Urlaub, herrlich, was Tine, zusammen unterwegs, du und ich. Wie lange das her ist!«
    Ich schiebe den Geigenkasten zur Seite, stehe auf und setze mich neben Valentine.
    Â»Viel gemütlicher so.« Ich hake mich bei ihr ein. »Ich weiß es, wirklich. Es ist nicht so einfach, wie ich manchmal denke.« Ich puste in meinen heißen Kaffee.
    Valentine zeigt: »Guck, da kommt der Ruhrpott.«
    Ich folge dem Finger meiner Schwester. Haufenwolken hängen reglos in der Luft. Die Sonne scheint großzügig, und die Pappeln und Weiden an den Gräben werfen dunkle Schatten auf das Wasser. Doch jetzt lösen sich in der Ferne das Weiß der Wolken und das Blau des Himmels dazwischen auf. Blau wird fahlblau wird grau. Weiß wird gelb und verwandelt sich in Braun. Grün, lila, orange, alle Braun- und Grautöne, von hell bis dunkel. Solche Farben hat der Himmel, und wenn ich nicht wüsste, dass diese Farben aus Schornsteinen kommen, könnte ich den Himmel genießen. Denn der ist schön vor Schmutzigkeit.

2 Valentine
    Sigrid will unbedingt vorwärts fahren. Ich auch. Sigrid sagt, dass ihr schlecht wird, wenn sie rückwärts fährt.
    Â»Seit wann denn?«, frage ich.
    Â»Seit ich eine neue Brille habe«, sagt Sigrid.
    Â»Dann lass dir eine neue anmessen. Du wirst doch nicht weiter mit einer Brille rumlaufen, von der dir schlecht wird?«
    Sigrid zuckt mit den Schultern. »Keine Zeit«, sagt sie. »Du weißt ja, wie das
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