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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut
Autoren: Lucette ter Borg
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einen für das Mäuschen und einen für die schöne Kanne«, summte ich.
    Â»Mach es dir gemütlich!«, rief ich hinein.
    Mit einem Topflappen nahm ich den Kessel vom Feuer. Während ich das kochende Wasser über die Teeblätter goss und den aromatischen Duft von Darjeeling einsog, murmelte ich: »Spiel dich schon mal ein. Mutti wartet, bis der Tee gezogen hat. Mutti ist gleich da.«
    Brigit war meine treueste Schülerin. Seit sie acht war, kam sie zum Unterricht. Aber auch außerhalb der Stunden schaute sie in der Noorderhagen vorbei. Anfangs einmal, dann zweimal die Woche und später fast jeden Tag.
    Â»Was willst du bei so einer langweiligen, alten Person?«, fragte ich das stille Kind mit den langen dicken Zöpfen und dem linken Auge, das schief am rechten vorbeistarrte. Das Mädel weigerte sich zu gehen. Wie ein Baumstumpf stand es vor der Tür.
    Manchmal dachte ich: Bah, ich habe überhaupt keine Lust, so eine Rotznase um mich herum zu haben. Otto hatte schon längst ein Zimmer in Amsterdam. Und nach Karels Beerdigung war ich irgendwo froh, dass ich mich um niemanden mehr zu kümmern und zu sorgen brauchte. Ich hatte meinen Teil geleistet. Jetzt war ich dran. Darum sagte ich zu dem Kind: »Nein, es passt mir gerade nicht. Heute habe ich zu viel zu tun.«
    Es war, als ob ich einem alten Hund in die Rippen träte. Als das Mädchen das nächste Mal klingelte, bat ich sie herein. Sie durfte den ganzen Nachmittag bleiben und Knöpfe sortieren oder mir beim Wäschelegen helfen. Als die Laternen auf der Straße angezündet wurden und ich das Essen vorbereiten musste, schickte ich sie weg. Ich sagte dabei: »Wenn du magst, darfst du morgen auch vorbeikommen. Du bist eine Liebe mit deinem komischen Auge, mir fällst du nicht zur Last.«
    Und so gewöhnte ich mich an Brigit. An ihre leise Stimme, ihre Jacke an der Garderobe, ihren Geruch, an jemanden, der antwortete, wenn ich etwas fragte.
    Sie war so anders als Otto. Nachmittage lang saß sie bei mir in der Küche und friemelte an irgendetwas herum, oder sie übte ihre Klavierstücke. »Willst du nicht draußen spielen mit deinen Freundinnen?«, erkundigte ich mich manchmal. »Oder zu deiner Mutter?«
    Brigits Antwort war immer nein. Sie fand es bei Mutti viel zu gemütlich, gemütlicher als zu Hause, wo Mutter Pauwels auf dem Sofa lag. Sobald die die Hintertür hörte, durfte sich das Schaf gleich an die Arbeit machen: einkaufen, Essen kochen, und hin und wieder gab es auch noch was zu flicken.
    Mit dem Älterwerden verschwanden die Zöpfe. Brigit ließ ihr Haar kurz. Statt Röcken und Kniestrümpfen trug sie nun Schlaghosen und karierte Blusen. Sie verabschiedete sich von der sechsten Klasse der katholischen Mädchenschule an der Langestraat und ging aufs Gymnasium in Hengelo. Sie sagte, dass sie nun weniger Zeit haben würde vorbeizuschauen. Sie sagte es stammelnd, ein Bein über das andere gekreuzt, die Hände auf dem Rücken.
    Â»Und deine Klavierstunden?«, fragte ich besorgt. »Du musst schon üben.«
    Â»Mache ich auch, Frau van Snitten«, antwortete Brigit errötend. »Aber ich habe haufenweise Hausaufgaben und Klausuren, und mein Vater würde es nicht dulden, wenn ich sitzenbleiben würde. Schwester Adriana von der Schule ist bei uns zu Hause gewesen, um zu bitten, dass ich aufs Gymnasium darf.« Brigit wurde rot bis über beide Ohren: »Schwester Adriana hat gesagt, dass ich ein schlaues Mädchen bin und dass es dem lieben Gott nicht gefällt, wenn Talent weggeworfen wird. Da hat mein Vater zugestimmt, aber wenn ich auch nur eine schlechte Zensur bekomme, muss ich die Schule verlassen.«
    Â»Wann wirst du mich denn mal ›Mutti‹ nennen?«, fragte ich. »›Frau van Snitten‹ klingt so steif.« Ich kniff ihr in die Wange.
    Brigit lächelte zögernd: »Ich verspreche, so oft zu kommen, wie ich kann, wirklich.«
    Ich sehe sie noch vor mir stehen, mit ihren lang ausgeschossenen Armen und Beinen und dem Kinderleib dazwischen. Das Mäuschen nuckelte an einem Kreuz aus billigem Plastik, das um ihren Hals hing.
    Â»Wo hast du das her?«, fragte ich. »Verteilen die Schwestern das an die Mädchen, die auf die Schule für Große gehen?«
    Ich wollte erzählen, wie uns in meinem Heimatdorf im Erzgebirge am letzten Schultag Schleifen ins Haar gebunden wurden und wir mit
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