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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut
Autoren: Lucette ter Borg
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Blumensträußchen in der Hand durch die Straßen liefen, lauter kleine Bräute auf dem Weg in eine glänzende Zukunft, aber Brigit kam mir zuvor.
    Â»Auf dem Jahrmarkt gewonnen«, sagte sie. »Bei den Greifautomaten. Wenn man zehn Armbänder erwischt, darf man sich eine Kette aussuchen. Es gibt welche mit einer Blume, einem Herz und mit einem Lachgesicht. Ich fand diese am schönsten.«
    Â»Das ist sie auch, Schätzchen«, sagte ich, während ich überlegte, was die Worte Greifautomat und Lachgesicht bedeuten mochten. »Sie ist wunderschön.«
    Ich ließ das Kreuz auf Brigits Brust zurückfallen. »Bedeutet es dir etwas?«, fragte ich. »Trägst du es, weil Jesus Christus für unsere Sünden am Kreuz gestorben ist?«
    Ich erschrak selbst ein bisschen über meine Stimme, sie klang scharf, als ob ich damit Fleisch in Stücke schneiden würde, mit der Spitze eines scharfen Messers direkt in den Knorpel hinein. Warum so scharf? Ich war überhaupt nicht scharf. Im Gegenteil. Ich war sanft und nachgiebig, wie man am Fleisch meiner Arme fühlen konnte.
    Â»Glaubst du, dass Jesus auf die Erde gekommen ist, um uns von dem Bösen zu erlösen?«, fragte ich.
    Â»Natürlich«, sagte Brigit. »Denn nur bei den Greifautomaten kann man Jesus-Kreuze gewinnen. Nicht beim Autoscooter. Da stehen die gemeinen Jungs und Mädchen, die versuchen, einem ein Bein zu stellen, und einen wegstoßen, wenn man in ein Auto steigen will.«
    Brigits Auge starrte an mir vorbei. Ich verstand nichts von dem, was sie sagte.
    Â»Soll ich für Sie auch eine greifen, morgen?«
    Â»Das ist nicht nötig, behalt dein Geld nur selbst«, sagte ich.
    Und jetzt war das Kind fast achtzehn, sie trug einen BH, samstagabends ging sie ins Jugendcafé auf dem Dachboden der Kirche, aber sie hatte noch keinen Freund. So weit war sie noch nicht.
    Ich unterrichtete Brigit jede Woche. Dienstagnachmittags zwischen halb vier und halb fünf. Vater Pauwels bezahlte schon längst nicht mehr alle Stunden, ich beließ es dabei. Manchmal entlohnte er mich für einen ganzen Monat auf einmal, manchmal kam ein Fasan oder ein Hase, lange Zeiten kam auch gar nichts. Es kümmerte mich nicht. Das Geld, das ich an der Musikschule verdiente, reichte für mich allein gerade so hin.
    Allerdings hatte ich meine liebe Mühe mit Brigits musikalischer Begabung, oder besser gesagt, mit dem Mangel daran. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich dem Mädchen erklärt habe, dass eine Melodie eine Geschichte ist, mit einem Anfang und einem Ende, mit Noten, die hüpfen, die aber mitunter auch traurig und schwer sind, wie der Kohlenkeller unter meinem Haus. Nie jubelte es bei Brigit, nie ging es mir an die Nieren, nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde.
    Nein, bei Brigit war es immer ein einziges Holzhacken.
    Ich arbeitete die Bücher von Folk Dean und Burgmüller durch, an Tonleitern und Etüden entlang, die ich anfangs mit Kätzchen und Kaninchen verzierte, um ihr die Übungen etwas zu versüßen. Nach zehn Jahren Unterricht war Brigit bei den einfachen Präludien von Bach angekommen, und das war, schätzte ich, das Höchste der Gefühle.
    Bach ist immer schön. Sogar wenn man ihn langsam spielt.
    Und wenn Brigit zum zigsten Mal dieselbe falsche Taste anschlug, beherrschte ich mich: »Einfach weiterspielen, Brigit. Nicht auf den Fehler achten, nicht den Takt wiederholen, sondern weitermachen. Der größte Teil des Publikums merkt nicht einmal, dass du eine ­falsche Note spielst.«
    Als ob Brigit jemals Publikum haben würde.
    Ich würde mir lieber die Zunge abbeißen, als so etwas Hässliches zu sagen. Sigrid würde es tun.
    Für Sigrid ist Musik eine ernste Sache, bei der für so jemanden wie das Mäuschen kein Platz ist. Während ich finde, dass es mehr als eine Art gibt, Musik zu machen, Musik zu genießen. Sigi tut gern, als ob sie alles wüsste, dabei plappert sie nur nach, was Papa immer gesagt hat.
    Mit dem vollen Tablett in den Händen ging ich vorsichtig ins Wohnzimmer, wo Brigit mit ihrem Klavierbuch und -heft hinter dem weißen Steinway bereitsaß.
    Â»Komm erst mal von dem Hocker runter«, sagte ich. »Ich habe Tee mit Keksen und Schokolade.«
    Ich bückte mich, um das Tablett auf den gläsernen Couchtisch zu stellen. Ich spürte meinen Bauch. Ich sollte ein wenig aufpassen mit dem Essen. Nach
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