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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut
Autoren: Lucette ter Borg
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Narben?«, fragte ich. »Bleiben keine Narben von diesen Pickeln zurück?«
    Brigit schüttelte den Kopf. Dann sagte sie, als ob sie eine schwierige Rechenaufgabe löste: »Jetzt habe ich mein Abitur in der Tasche.«
    Â»In der Tat, Schätzchen. Ich bin so stolz auf dich.«
    Â»Und nun gehe ich weg«, sagte Brigit. Sie kniff so fest in die Stuhllehne, dass ihre Knöchel weiß wurden.
    Â»Cum laude, und das für ein Mädchen.« Ich stand hastig vom Sofa auf. »Möchtest du noch ein bisschen Schokolade oder einen Keks? Ich hab noch was in der Küche.« Mein Kopf fühlte sich an wie Watte. Die Geräusche im Zimmer drangen nicht richtig zu meiner Hirnschale durch. Wieso weggehen?
    Â»Danke, Frau van Snitten«, sagte Brigit. »Es war sehr lecker. Aber ich habe genug.«
    Â»Du genug? Du bist doch sonst so eine Naschkatze.«
    Â»Ich gehe weg«, sagte Brigit noch einmal.
    Â»Natürlich gehst du weg.« Ich sank aufs Sofa zurück. »Wo denn hin? Radfahren mit deinen Freundinnen?«
    Â»Nach dem Sommer«, sagte Brigit. Sie rollte die Ärmel ihrer Bluse hoch bis über die Ellenbogen und wieder hinunter. »Ich bleibe nicht in Delden. Ich werde studieren. In der großen Stadt.«
    Â»Oh, studieren«, sagte ich. »Enschede hat eine gute Universität.«
    Â»Nein«, sagte Brigit. »Ich gehe nicht nach Enschede.«
    Â»Nicht nach Enschede? Aber dann könntest du weiterhin hier wohnen und mit dem Zug hin- und herfahren. Und wenn es dir bei deinem Vater und deiner Mutter nicht gefällt, könntest du immer zu mir kommen. Ich habe drei Zimmer, du darfst dir eins aussuchen. Stell ich ein Bett rein und einen Arbeitstisch.«
    Â»Ich gehe richtig weg«, unterbrach mich Brigit. »Weg aus Twente.«
    Brigits schlimmes Auge mit der toten Pupille starrte mich an. Plötzlich wurde mir kalt, als würde das Auge mich verfluchen.
    Â»Ich ziehe nach Rotterdam«, sagte Brigit.
    Die Stimme des Mäuschens zitterte. Sie flehte. Warum flehte sie? Sie war doch keine Katze, die um Milch bettelte?
    Ich schwieg. Meine holländischen Worte reichten nicht aus.
    Â»Sie verstehen es bestimmt, Frau van Snitten«, hörte ich Brigit sagen. »Sie haben früher selbst so viel von der Welt gesehen. Sie verstehen, dass ich etwas mehr will als Delden.«
    Â»Die Welt, jaja«, murmelte ich, »davon habe ich viel gesehen. Und Delden – darüber brauchst du mir nichts zu erzählen. Hier kennt jeder jeden, nicht wahr? Man kann nichts verborgen halten. Und nichts wird jemals vergessen.« Ich sagte es, als wäre damit alles gesagt.
    Es klingelten nur noch wenige Leute in der Noorderhagen, und vor allem seit Karels Geschäften im Krieg war es still geworden. Brigit war eigentlich die Einzige, die vorbeischaute. Neben Sigrid. Und Otto natürlich, aber der kam nur alle zwei Monate und dann immer Stunden später als vereinbart.
    Â»In der großen Stadt wird mein Leben beginnen«, sagte Brigit.
    Â»O ja«, erwiderte ich. »Ganz bestimmt. Dort beginnt es.« Ich nahm den letzten Mandelkringel und schenkte noch einmal Tee ein. »Du machst mir keinen Kummer damit, hörst du. Es überrascht mich überhaupt nicht. Wenn ich in deinem Alter wäre, würde ich auch weggehen und neue Menschen kennenlernen.«
    Ich wich Brigits starrendem Auge aus und richtete meinen Blick auf die Atlas-Figur aus schwarzem Marmor, die als Zierde auf meiner Standuhr thronte. Atlas’ dicker Körper krümmte sich unter der Last der Erde, die er trug. Ich sah, wie sich seine Muskeln wölbten, wie sein Gesicht vom Schmerz verzerrt war. Eine widerliche Figur eigentlich. Nach dem Urlaub würde ich sie rausschmeißen.
    Â»Erzähl mal«, fragte ich. »Was willst du denn genau studieren? Doch nicht am Konservatorium, hoffe ich?« Ich lachte, als ob jemand einen guten Witz zum Besten gegeben hätte. Hoch, wo es hoch sein musste, und mit einem tiefen sonoren Echo hinten in der Kehle. »Fürs Konservatorium hast du nicht genug drauf, falls du das denkst.«
    Brigit zuckte mit den Schultern. »Ich spiele nur zu meinem Vergnügen«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich habe nicht vor, in der Musik weiterzumachen.« Sie drehte ihr gesundes Auge von links nach rechts und wieder zurück. »Ich werde etwas Praktisches tun«, sagte sie. »Das will mein Vater auch. Er sagt, dass man lieber einen Beruf
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