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Deichgrab

Deichgrab

Titel: Deichgrab
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    Freitag, 26. Mai 1995

     
    Lieber Großvater,

     
    ich bin gut bei Onkel Hannes angekommen. Die Zugfahrt war sehr schön. Ich hatte einen Fensterplatz und habe die ganze Zeit hinausgeschaut. Neben mir saß ein Junge, der aus Norddeutschland kam. Der hieß Sönke und war sehr nett.
    Am Bahnhof hat mich die Schwester von Onkel Hannes, Tante Lisbeth, abgeholt. Ich konnte sie gar nicht übersehen, denn sie ist sehr dick und laut. Schon als ich ausstieg, rief sie über den gesamten Bahnsteig hinweg meinen Namen. Ein wenig peinlich war es schon, da plötzlich alle Augen auf mich gerichtet waren, ganz besonders, als sie mich umarmte und mich mehrere Male küsste. Ihr Mund war mit Lippenstift bemalt, den ich nachher im ganzen Gesicht hatte. Aber sie meinte es ja nur gut und irgendwie habe ich sie gleich gemocht.
    Über die Bundesstraße sind wir mit ihrem alten VW nach Risum-Lindholm, ins Dorf von Onkel Hannes gefahren. Tante Lisbeth hat die ganze Fahrt geredet und geredet. Ich war allerdings viel zu aufgeregt und habe gar nicht richtig zugehört. Draußen wurde es schon dunkel. Ich habe aber trotzdem gesehen, dass es hier sehr wenige Häuser gibt. Dann habe ich Tante Lisbeth gefragt, warum ich eigentlich nicht bei ihr wohnen könnte, schließlich fand ich sie sehr nett. Sie hat aber nur geantwortet, dass sie viel arbeiten würde und ihre Wohnung sowieso viel zu klein für zwei Personen sei. Bei Onkel Hannes hätte ich ein eigenes Zimmer und es gäbe auch einen Garten zum Spielen. Das würde mir sicher besser gefallen als ihre kleine Wohnung. Ich fand, dass Tante Lisbeth recht hatte. Ich war mächtig gespannt, wie es bei Onkel Hannes sein würde. Ob das Zimmer auch so schön wie bei dir sein würde, habe ich mich gefragt. Du weißt ja, wie gerne ich an meinem Schreibtisch am Fenster sitze und manchmal einfach nur so den Wolken am Himmel zugucke.
    Die Fahrt dauerte nicht besonders lang. Schon bald hatten wir das Dorf und wenig später Onkel Hannes Haus erreicht. Draußen war es allerdings schon dunkel, sodass ich nicht viel erkennen konnte. Onkel Hannes stand im Schein einer kleinen Lampe, die über der Haustür hing. Er ist sehr groß, nicht so dick wie Tante Lisbeth, aber in dem schummrigen Licht der kleinen Lampe wirkte er irgendwie unheimlich. Tante Lisbeth ist dann plötzlich ganz komisch geworden. Sie hat Onkel Hannes nur kurz begrüßt, meine Koffer ausgeladen und ehe ich mich versah, saß sie bereits wieder im Auto und winkte mir zum Abschied zu. Onkel Hannes hatte bis dahin noch nicht ein einziges Wort gesagt. Er nahm meine Koffer und sagte:»Komm mit.« Dann ging er ins Haus.
    Drinnen gab es kaum Möbel. Vielleicht lag es daran, dass es draußen bereits dunkel war und durch die kleinen Fenster kaum Licht hereinfiel, aber ich fand alles ein wenig unheimlich.
    Nun sitze ich hier in einem kleinen Zimmer und schreibe diesen Brief. Onkel Hannes ist, nachdem er mir mein Zimmer gezeigt und zum Abendbrot einen Teller Gemüsesuppe aufgefüllt hatte, ausgegangen. Er hat nicht mit mir geredet, nur ein dunkles Jackett angezogen, eine schwarze Wollmütze aufgesetzt und das Haus verlassen.
    Vor mir stehen meine Koffer. Ich habe gar keine Lust, sie auszupacken. Wenn ich doch nur bei dir sein könnte! Du fehlst mir so! Ich versuche jetzt zu schlafen und die Koffer packe ich vielleicht morgen aus.
    Ich habe dich ganz schrecklich lieb und schreibe dir so schnell es geht wieder, damit du weißt, wie es mir geht.

     
    Viele liebe Grüße,
    Dein Tom

     
    Tom saß in der kleinen, dunklen Küche von Onkel Hannes.
    An den Tag seiner Ankunft, den er in diesem Brief beschrieben hatte, konnte er sich noch sehr genau erinnern. Damals war er zehn Jahre alt gewesen. Sein Großvater, der ihn nach dem tödlichen Autounfall seiner Eltern bei sich aufgenommen hatte, war kurz zuvor gestorben. Außer Onkel Hannes, dem Stiefbruder seiner Mutter, hatte man keine anderen Verwandten ausfindig machen können. Nur widerwillig hatte er sich damals bereit erklärt, die Vormundschaft für Tom zu übernehmen und ihn zu sich geholt. Tom hatte nicht wirklich begriffen, dass sein Großvater tot war. Er hatte eher das Gefühl gehabt, eine Art Ferien bei Onkel Hannes zu verbringen, irgendwie vorübergehend, nichts Endgültiges. Deshalb hatte er diese Briefe geschrieben. Für ihn war sein Großvater nicht tot, nicht unerreichbar gewesen. Für ihn war er lebendig geblieben. Tom war mit seinen Gefühlen und Gedanken so fest mit seinem Großvater verbunden
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