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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut
Autoren: Lucette ter Borg
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hin, »dieses Messer ist nicht so stumpf. Und iss nicht so komisch. Die Leute gucken schon. Denk an dein Dekorum, Sigrid Raffelsberger.«
    Ich nehme ein paar Schlucke von meinem Bier. Die Kohlensäure sprudelt in meinem Magen herum und blubbert dann über die Därme direkt in meine Blase. Ich muss auf einmal ganz nötig. »Tut mir leid«, sage ich, »ich muss auf die Toilette.«
    Als ich zurückkomme, ist Sigrids Stuhl leer. Ihr Schnitzel liegt angeschnitten auf ihrem Teller, das Messer daneben, ein Stück Fleisch an der Gabel. Ich setze mich und bestelle mir noch ein Bier. Sigrid ist bestimmt auch auf dem Klo.
    Nach fünfzehn Minuten ist Sigrid noch nicht zurück. Ich lasse mein Bier stehen und gehe in die Gaststätte. ­»Sigrid«, rufe ich in der Damentoilette, »Sigrid, bist du hier?«
    Es kommt keine Antwort.
    Ich gehe auf die Terrasse zurück und setze mich wieder. Vielleicht ist Sigrid frische Luft schnappen, sich die Beine vertreten. Ich betrachte die scharfen Kämme des Wettersteingebirges und sehe, dass sich der Himmel mit Wellen gefüllt hat, Schäfchen, die sich in Wellen verwandelt haben, ein ganzes Meer.
    Am Tisch neben mir sitzt eine Familie mit drei Kindern. Die Kinder schreien, kneifen einander und werfen sich gegenseitig Erdnüsse an den Kopf. Die Eltern sitzen still dabei.
    Â»Entschuldigen Sie«, beuge ich mich zur Seite. »Haben Sie vielleicht meine Schwester gesehen, die blonde Frau mit der blauen Hose und der roten Strickjacke, die neben mir saß?«
    Â»Nicht gesehen«, sagt der Mann.
    Aber die Frau klopft ihm aufs Knie. »Doch Gerhard. Diese Dame haben wir gesehen. Sie ist die Terrasse hinuntergelaufen, da lang.« Sie zeigt in Richtung Karwendelbahn.
    Â»Hat meine Schwester gesagt, wo sie hingeht?«, frage ich.
    Â»Nein«, sagt die Frau. »Tut mir leid. Keine Ahnung.«
    Â»Jedenfalls herzlichen Dank und einen schönen Tag noch.«
    Â»Wollen Sie in die Berge?«, fragt der Mann.
    Â»Ja, eigentlich schon. Oder besser gesagt, auch wieder nicht. Meine Schwester und ich hatten vor, den Berg hinunterzuwandern, nach Mittenwald.«
    Â»Das sollten Sie nicht tun«, antwortet der Mann. »Schauen Sie sich mal die Wolken an. Es ist schlechtes Wetter im Anzug.«
    Â»Diese Schäfchenwolken?«, sage ich.
    Ich stehe auf, ziehe meinen Pullover wieder an und nehme meine Tasche. »Ich habe es eilig. Ich gehe meine Schwester suchen.«
    Ich grüße das Ehepaar und laufe, so schnell ich kann, zur Bergstation zurück. Sigrid hat das ganze Geld bei sich, also selbst wenn ich wollte, ich könnte nicht einmal ein Ticket für die Rückfahrt bezahlen. Das Bierchen eben hat mich das letzte Kleingeld gekostet, das ich in der Tasche hatte. Kindisch, einfach so zu verschwinden.
    Am Schalter frage ich wieder nach Sigrid. Der Mann schaut nachdenklich, aber als ich ihm erzähle, dass Sigrid eine rote Strickjacke trägt und dass ihr Haar so blond ist, dass es fast leuchtet, schüttelt er den Kopf. »Nein«, lacht er, »so ein schönes Mädel ist nicht hier gewesen.«
    Sigrid ist zu Fuß losgegangen. Auf einmal bin ich mir sicher. Sigrid ist nicht in die Seilbahn gestiegen, und schon gar nicht in eine, die nach unten fährt.
    Â»Wie komme ich zu dem Weg, der nach Mittenwald führt?«, frage ich den Kartenverkäufer.
    Â»Der klassische Abstieg?«, sagt der Mann. »Da müssen Sie am Ausgang nach links und dann den Schildern zur Mittenwalder Hütte folgen. Aber an Ihrer Stelle würde ich das nicht tun. Es zieht sich zu da oben.«
    Â»Ja, ja, danke«, antworte ich. Die Unruhe klopft mir inzwischen in der Kehle. Ich muss Sigrid finden, bevor das Wetter schlecht wird.
    Vor der Seilbahnstation läuft ein schmaler, steiniger Pfad nach links. Diesen Pfad schlage ich ein. Zwei Bergsteiger kommen mir keuchend entgegen. Ich presse mich an die Bergflanke, um die beiden passieren zu lassen. »Sind Sie auf dem Weg nach oben vielleicht einer älteren Dame begegnet?«, frage ich. »Sie hat aschblondes Haar und trägt eine Cordhose und eine rote Strickjacke. Vielleicht auch noch eine Jacke darüber. Ich habe meine Schwester verloren.« Ich lache. »Ich habe sie natürlich nicht wirklich verloren, aber ich vermute, dass sie schon vorausgegangen ist nach Mittenwald.«
    Â»Ja sicher, die haben wir gesehen«, sagt die Frau. »Nicht wahr, Bernhard? Eine halbe Stunde zu
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