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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri
Autoren: Martin Clauß
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medizinischen Systemen zu tun zu haben, sondern Versuchskaninchen für neue, ziemlich kühne Projekte abzugeben, in Experimente verwickelt zu werden, deren Erfolg fragwürdig war und die sich der populäre Doktor dennoch gut bezahlen ließ.
    Wie sinnvoll konnte es sein, unter Depressionen leidende Patienten in den kahlen, unfreundlichen Räumlichkeiten eines Kellergeschosses unterzubringen? Es gab keine Fenster hier, keine Frischluft und keinen Sonnenschein, und die kurzen Ausflüge an die Oberfläche, die sie unter strenger Bewachung unternahmen, verliefen so ereignislos, dass sie daraus keine Hoffnung oder Lebensfreude schöpfen konnten. Die meiste Zeit über wurden sie mit militärisch anmutenden Drills beschäftigt, die zynisch als Gruppentherapie bezeichnet wurden. Einige unter ihnen, die bereits anderenorts Therapien durchgemacht hatten, vermissten die Gruppengespräche, die Spiele, die Einübung sozialer Aktivitäten, die gemeinsamen kreativen Aktionen. In den Wochen dieser Therapie hatten sie weder getanzt, noch Bilder gemalt, noch offen miteinander über ihre Probleme und Erfahrungen gesprochen. Stattdessen hatten sie sich im Fernsehzimmer oder bei hirnlosen Bewegungsdrills gelangweilt. Sie hatten das Gefühl, verwahrt und beobachtet zu werden, nicht mehr. In den letzten Tagen war es beinahe unerträglich geworden.
    „Ich glaube, das gehört zur Behandlung“, sagte der Junge mit dem Manga. „Eine neue Phase der Therapie hat begonnen.“
    „Man langweilt uns zu Tode und lässt uns dann ganz allein sitzen?“ Sam schüttelte den Kopf. „Dann hätte man uns ebenso gut in unseren Familien lassen können.“
    Die anderen stimmten zu. Überall waren die Überwachungskameras ausgefallen. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte die Theorie etwas für sich haben können. So aber stand sie nicht zur Disposition. Man würde sie nicht unbeobachtet lassen. Es war einfach zu gefährlich. Zwar gab es keine spitzen oder scharfen Gegenstände auf der Station, mit denen man einen schnellen Suizid verüben konnte – außer im Dienstzimmer, und das war, wie sich Sam sofort vergewissert hatte, wie immer abgeschlossen –, aber wenn man es darauf anlegte, war ein Selbstmord freilich kein Ding der Unmöglichkeit. In Ermangelung eines Gürtels oder eines Schnürsenkels konnte man sich notfalls mit dem Ärmel eines Pullis erdrosseln. Und wenn die neun sich gegenseitig unterstützten, würde es unbedingt machbar sein. Fälle, in denen Menschen gemeinsam einen Suizid begingen, waren in der Geschichte Japans keine Seltenheit. Das hatte es früher schon bei den Samurai oder bei den legendären Doppelselbstmorden unglücklicher Liebender gegeben. In der Zeit des Internets fanden sich Menschen über einschlägige Webseiten, um sich gegenseitig in ihrem Vorhaben zu bestärken und zu unterstützen. Es war zu einem gesellschaftlichen Problem geworden und wurde in den Medien eifrig diskutiert.
    Aber wenn das Verschwinden der Glotzer keine Absicht war, was war es dann?

5
    Japan, 1990
    „Es ist lange her, dass wir gemeinsam etwas gemacht haben.“
    Madoka blickte ihren Bruder aus zusammengekniffenen Augen an. Es war so früh am Morgen, dass die Sonne noch tief stand. Kazuo hatte sich direkt davor aufgestellt und war nur ein verschwommener Schatten. Die letzten Morgennebel verzogen sich allmählich, die puderartige, flockige Konsistenz der lichtdurchfluteten Luft verschwand. Der Junge ging ein Stück zu Seite und war jetzt deutlich zu erkennen. Magie verwandelte sich in Alltag.
    Irgendetwas in Madoka jedoch blieb auf der Hut.
    Es war nur natürlich, dass sie sich unwohl fühlte, ganz allein mit ihrem Bruder. Wie er schon gesagt hatte, es war lange her … Obwohl sie erst Kinder waren, schien eine endlose Vergangenheit hinter ihnen zu liegen, eine Vorgeschichte, die es ihnen schwer machte, unbefangen und entspannt miteinander umzugehen. Madokas Magen verkrampfte sich, und etwas tief in ihrem Inneren schien sich zum Angriff vorzubereiten, wenn sie ihn nur ansah.
    Auch Kazuo war nervös. Es war überdeutlich, dass er versuchte, sie anzusehen, wenn er mit ihr sprach. Doch immer wieder blickte er zur Seite, schickte seine Blicke über das öde, reizlose Ufer, als fürchtete er, etwas auslösen zu können, wenn er sie zu lange fixierte.
    Nun, da Madoka neun Jahre alt war, war Kazuo sechzehn. Er war hoch aufgeschossen und klapprig dünn, und wenn das grelle Licht harte Schatten auf seine hohlen Wangen warf, hätte man ihn für dreißig halten
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