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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri
Autoren: Martin Clauß
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sofort, wo sie sich befand, aber ihr fiel nicht ein, weshalb sie hier war. Für Sekunden schien die einzige Erklärung zu sein, dass jemand ihr zu Hilfe geeilt sein musste, als sie dort am Strand lag, dass fleißige Sanitäter die tausend Brocken ihres Körpers aufgesammelt, den zerbröckelten Haufen davongetragen und wieder zusammengesetzt hatten. Dass man sie an lebenserhaltende Systeme angeschlossen hatte und versuchte, aus dem kräftig durchgemischten Puzzle ihres Leibes wieder etwas zu rekonstruieren, das der Madoka, die sie früher gewesen kann, ähnelte.
    Das Kopfkissen war nass von ihrem Schweiß, ihre Lippe schmeckte nach Salz, und ihre Ausdünstungen rochen nach Essig. Ihre verkrampften Hände schmerzten, und es schmerzte beinahe noch mehr, ihren Griff zu lockern, die Finger auf den ebenfalls schweißgetränkten Laken auszustrecken.
    Sie versuchte, ihren Körper abzutasten, doch sie erwischte nur Bandagen und Schläuche. Bis zum Hals war sie in Binden gewickelt, und selbst auf ihrem Gesicht fanden sich Pflaster und spannten bei jeder Regung. Ihre schweren dunklen Haare rochen, als wären sie schon lange nicht mehr gewaschen worden. Von ihrem Körper führten so viele Schläuche weg, dass man unmöglich sagen konnte, welche davon Wundwasser und welcher Urin transportierte.
    Eine Schwester stand im Zimmer und betrachtete mit besorgtem, beinahe zornigem Gesicht die Anzeigen der Geräte. „Albtraum, was?“, sagte sie mit hartem, osteuropäischem Akzent.
    Zuerst bewegte Madoka den Kopf leicht hin und her. Sie sehen doch selbst, in welchem Zustand ich bin, wollte sie sagen. Wie können Sie von einem Albtraum reden, wenn Sie die Wirklichkeit vor Augen haben? Sehen Sie die Schläuche nicht?
    Doch dann stockte sie und nickte schließlich.
    Ja. Die Schwester hatte recht. Es war tatsächlich ein Albtraum gewesen. Die Realität mochte schlimm sein, aber sie ließ in der Tat Raum für Träume, die noch schlimmer waren. Ja, sie war schwer verletzt (und jetzt erinnerte sie sich auch wieder daran, wie sie auf Falkengrund von den Hunden attackiert worden war), aber von den Brocken abgesehen, die die Hunde ihr ausgerissen haben mochten, war ihr Körper noch in einem Stück. Ihre Organe, ihre Lungen, ihr Herz – sie verrichteten ihren Dienst. Ihr Körper war aufgerissen, nicht zerhackt.
    Geeggt, nicht gepflügt.
    „Was haben Sie geträumt?“, wollte die Schwester wissen. Sie sah die Patientin nicht an, sondern schlug ihre Decke zurück und kontrollierte die Bandagen und tausend andere Dinge, wie bei einer Maschine, die gewartet wurde.
    Madoka überlegte, ob sie es ihr erzählen sollte. Dann überlegte sie, wie sie es ihr erzählen sollte.
    „Kennen Sie Ikezukuri ?“, fragte sie leise. Es war ihr unangenehm, als die Schwester sich über sie beugte. Sie schämte sich für den Geruch ihres Körpers.
    „Nein. Noch nie gehört“, sagte die Weißgekleidete und legte die Bettdecke behutsam wieder über den schlanken Leib, der durch die Binden auf seine doppelte Größe angewachsen war.
    „In Japan“, begann Madoka, „gibt es eine besondere Art, rohen Fisch zu servieren. Man schneidet das Fleisch des lebenden Fischs mit einem scharfen Messer in kleine Stücke und setzt sie wieder zusammen, so dass man, wenn er auf den Tisch kommt, meinen könnte, er würde noch leben. Man kann mit den Stäbchen Teile aus seinem Körper nehmen, und wenn er sehr frisch ist, kann man ihn dabei noch zucken sehen.“
    Die Schwester trat einen Stück vom Bett zurück, als ekle sie sich vor der Japanerin. „Barbarisch“, würgte sie hervor.
    „Es ist eine Tradition“, sagte Madoka. „Und es schmeckt lecker. Fisch sollte man so frisch wie möglich essen. Ich kann in Süddeutschland keinen Fisch essen. Er stinkt. So wie ich jetzt.“
    Kopfschüttelnd verließ die Schwester das Zimmer.
    Madoka blieb mit geöffneten Augen liegen und sah an die Decke. Versuchte nachzudenken. Aber sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie über ihren Traum nachdenken wollte oder über die Realität. Diesen Albtraum hatte sie nicht zum ersten Mal, aber es lag schon eine Weile zurück, seit er sie zum letzten Mal behelligt hatte.
    Sie hätte sich gerne auf die Seite gelegt, um sich weniger verletzlich und ausgeliefert zu fühlen. Aber die Schläuche ließen das nicht zu. Es war kein Wunder, dass sie gerade jetzt den Ikezukuri -Traum träumte. Ihre jetzige Situation ähnelte ihm ungemein. Ihr Körper war mit Wunden übersät, und sie lag auf dem Rücken, konnte sich
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