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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri
Autoren: Martin Clauß
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glich. Von den Jungen lümmelten zwei auf dem Fußboden herum, der andere stand, an die Wand gelehnt. Der Stehende las einen Baseball-Manga, die übrigen Anwesenden sahen in Richtung des in die Wand eingelassenen Fernsehers, auf dessen breitem, von Panzerglas bedecktem Bildschirm eine Kochsendung lief, der Ton fast zu leise, um etwas zu verstehen. Vermutlich hingen sie, jeder für sich, ihren Gedanken nach. Genau, wie Isamu es bis eben getan hatte. Der kleine, füllige Junge mit dem riesigen Muttermal auf der Stirn, der sich Sam rufen ließ, zuckte die Schultern. Er begriff nicht, was das Mädchen sagen wollte.
    „Die Glotzer “, sagte Kaori verschwörerisch. „Sie sind weg.“
    „Sie werden im Dienstzimmer sein.“
    Die Glotzer – das war der gängige Ausdruck für ihre Pfleger. So nannte man sie, weil sie die meiste Zeit über nicht pflegten, sondern nur beobachteten. Die Männer und Frauen in den betont legeren Klamotten (die auf den ersten Blick wie ganz normale Alltagskleidung anmuteten, bis einem auffiel, dass keine Niete und kein Reißverschluss an den Hosen war, dass es keine Gürtel gab und an den Schuhen keine Schnürsenkel) standen und gingen herum und verfolgten jede Regung der neun Jugendlichen. Vermutlich bildeten sie sich ein, es die meiste Zeit über unauffällig zu tun. Aber natürlich hatten die Insassen ebenso viel Zeit, ihre Pfleger zu beobachten, wie umgekehrt.
    „Im Dienstzimmer sind sie nicht.“
    „Dann auf …“
    Kaori unterbrach ihn. „Auch nicht auf der Toilette, im Lager, im Bad oder in den Schlafräumen. Ich habe überall nachgesehen. Sie sind weg.“
    „Und wenn schon.“ Sam hatte kein Interesse.
    „Es ist das erste Mal. Die letzten Wochen über haben sie uns keine Sekunde aus den Augen gelassen, und jetzt …“
    „Na und? Sie haben immer noch das da.“ Er zeigte auf die kleine eiförmige Kamera, die über dem Fernseher angebracht war. An der linken Wand gab es noch eine zweite. „Sie können uns jederzeit von da draußen beobachten – sogar auf dem Klo sind solche Dinger. Sag jetzt nicht, du hättest die Kameras noch nicht bemerkt.“
    „Blödsinn. Ich war noch keine drei Minuten hier, da sind sie mir aufgefallen. Aber bis heute waren sie immer … eingeschaltet.“
    Sam sprang plötzlich auf. „Das gibt’s doch nicht!“ Er lief auf den Fernseher zu und versperrte allen die Sicht. Wie erwartet protestierte niemand – das Programm hatte niemanden interessiert. Jede Abwechslung war willkommen. Sam stierte die Kamera und das winzige Birnchen auf der Unterseite an, das üblicherweise grün leuchtete. Jetzt war es erloschen. Dasselbe galt für die zweite Kamera an der anderen Wand. „Tatsächlich!“, stieß er hervor und kratzte sich am Kopf. „Die Kameras sind aus.“
    „Verstehst du jetzt, warum ich mich gewundert habe?“
    Allerdings. Er verstand Kaoris Überraschung so gut, dass er sich beinahe bei ihr entschuldigt hätte. Aber nur beinahe. Sich zu entschuldigen war nicht sein Ding. Die Glotzer waren weg, die Kameras aus. Eine kleine Sensation! Man hatte die neun suizidgefährdeten Depressiven einfach sich selbst überlassen.
    „Bestimmt kommen sie gleich wieder“, versuchte Sam sich zu beruhigen. „Wart’s nur ab. Es vergehen keine fünf Minuten, und sie sind wieder da, mit neugierigeren und größeren Augen als vorher.“
    „Irrtum. Sie sind schon seit fast einer Stunde weg.“ Kaori wog die schmalen Hüften und winkte mit den Händen. Es sollte wohl ein Freudentanz werden, doch die dicken Narben an ihren Handgelenken machten ihn zunichte, ließen ihn makaber aussehen.
    „Seit einer Stunde? Und warum verrätst du mir das erst jetzt?“
    „Weil ich wusste, was du sagen würdest: ‚Bestimmt kommen sie gleich wieder.’“ Sie hatte seine altkluge Stimme imitiert. „Was ist, wenn sie nicht mehr wiederkommen? Eine Stunde ist eine lange Zeit.“
    „Warum sollten sie nicht zurückkommen?“ Diese Frage stammte von dem Jungen, der den Manga gelesen hatte. Inzwischen hatten alle Anwesenden mitbekommen, was für ein Dialog zwischen Kaori und Sam ablief. Einige von ihnen waren aufgesprungen, andere blieben sitzen, wie gelähmt.
    „Vielleicht ist etwas Unvorhergesehenes passiert?“, mutmaßte Kaori.
    „Zum Beispiel?“
    „Vielleicht haben die Gefangenen in den anderen Abteilungen eine Revolte begonnen, und alle Wächter wurden zusammengezogen, um sie niederzuschlagen.“
    „Patienten“, verbesserte eines der Mädchen. „Wir sind Patienten, keine
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