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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri
Autoren: Martin Clauß
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Ihre Stimme war tatsächlich rau geworden, und sie räusperte sich mehrmals, was aber nicht half. Im Gegenteil. Sie hatte das Gefühl, ein zerfasertes, wundes Stück Fleisch in der Kehle zu haben, dort, wo eigentlich ihre Stimmbänder hätten sein sollen. Es war nicht so sehr das Schreien, es war der Stress, dieser ewige Stress. Sie rannte durch das Zimmer, suchte zuerst nach Taschentüchern und dann nach ihren Tabletten. Immer wieder sah sie im selben Schränkchen nach, und erst beim dritten Mal fand sie die Medikamente, obwohl sie die ganze Zeit über gut sichtbar direkt vor ihrer Nase gelegen hatten.
    „Ich gehe kurz rüber zu Tanaka-san“, meldete sich die Tochter nüchtern aus ihrem Zimmer. „Der hat genau das im Schaufenster, was ich brauche.“
    „Kommt nicht in Frage!“, erwiderte Reiko. „Du kannst nicht jedes Mal, wenn du ausgehst, ein neues Kleid haben. Außerdem müssen wir in spätestens fünf Minuten im Wagen sitzen.“
    „Es ist schon nach acht Uhr“, sagte der Vater. „Tanaka-san hat seit einer Stunde geschlossen.“
    „Zieh doch das weiße an!“, schlug Reiko entnervt vor. Sie durchwühlte den Inhalt ihrer Handtasche wieder und wieder. Hatte sie alles eingepackt? Sie vermochte sich nicht zu konzentrieren. „Das weiße kleidet dich sehr hübsch. Weißt du noch, der Junge von Miuras hat dir einen Heiratsantrag gemacht, als du das weiße trugst. Und mindestens zwei andere standen schon parat, um das gleiche zu tun.“
    „Genau drei Gründe mehr, es nicht anzuziehen“, maulte Kaori.
    „Wenn du dich nicht auf der Stelle umziehst, komme ich nach oben, ziehe dich eigenhändig aus und stopfe dich in das weiße Kleid!“, donnerte der Vater, dem endgültig der Kragen geplatzt war. Ihm ging es wie seiner Frau. Er suchte seine Autopapiere und konnte sich nicht erinnern, wo er sie hingelegt hatte.
    Die Antwort war ein dröhnendes Zuschlagen von Kaoris Zimmertür. Das Haus erbebte unter dem Knall, und Reiko ließ ihren Lippenstift auf den Glastisch fallen.
    „Verzogenes Gör“, grummelte Yôshi. „Heißt das jetzt, sie zieht sich an und kommt mit, oder schmollt sie und bleibt zu Hause?“
    „Warten wir ein paar Minuten. Dann werden wir es schon sehen.“
    „Warten! Warten! Wir kommen zu spät. Verstehst du? Zu spät !“
    „Du hättest sie eben nicht anschreien sollen“, tadelte Reiko.
    „Im Gegenteil. Ich schreie sie viel zu selten an.“ Yôshi steckte missmutig die Hände in die Hosentaschen und … zog die Rechte überrascht zurück. Mit ihr zog er ein dünnes braunes Lederetui heraus, das er ungläubig ansah. Seine Papiere! Er hatte sie die ganze Zeit über in der Tasche gehabt. Eine Minute lang stand er reglos in der Tür zwischen Diele und Wohnzimmer, und schon bereute er, so streng zu Kaori gewesen zu sein. Ihr hübsches Gesicht tauchte in seinem Geist auf, und er konnte ihr nicht mehr böse sein. Sie sah aus, wie seine Frau früher einmal ausgesehen hatte – womöglich war sie noch hübscher. Er selbst hätte ihr damals einen Heiratsantrag gemacht, wäre er nicht ihr Vater gewesen. In dem weißen Kleid hatte sie bezaubernd ausgesehen, federleicht und zerbrechlich, wie eine Schneeflocke. Sogar die blondierten, dauergewellten Haare, die ihn gewöhnlich störten, hatten wunderbar zu dieser Erscheinung gepasst. Sie hatten ihr die Noblesse einer amerikanischen Schauspielerin verliehen. Eines strahlenden Filmstars bei der Oscar-Verleihung.
    „Ich fahre schon mal den Wagen raus“, meinte er und verschwand nach draußen. Als er kurz darauf an der Schwelle die Schuhe wieder auszog und ins Haus zurückkehrte, war er ruhiger geworden. Seine Frau stand am Fuß der Treppe und schien sich zu überlegen, ob sie nach oben gehen sollte. Yôshi war so entspannt von den dreißig Sekunden hinter dem Lenkrad, dass ihm schon der Vorschlag auf den Lippen lag, ihrer Tochter noch ein paar Minuten Zeit zu geben, auf dass sie sich ebenfalls beruhigen mochte. Was war schon eine Viertelstunde Verspätung? Zu dem Empfang würden so viele Leute kommen, dass sie alle vor dem Gastgeber Schlange stehen mussten. Er hatte bei den ersten sein wollen, aber wenn das nicht möglich war, dann gesellten sie sich eben zu den letzten. Das war allemal angenehmer als im Pulk unterzugehen.
    „Entspann dich“, meinte er zu seiner Frau. „Wir machen uns nur selbst verrückt. Alles in Ordnung.“
    In diesem Moment öffnete sich oben die Zimmertür, und die Neunzehnjährige trat heraus. Obwohl es lautlos geschah, sahen die
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