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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri
Autoren: Martin Clauß
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nicht rühren.
    Würde sie wieder gesund werden? Wie würde sie aussehen, wenn all die Wunden verheilt waren? Und was noch eine viele wichtigere Frage war: Warum hatte sie sich überhaupt in diese Lage gebracht? Warum hatte sie zugelassen, dass die Hunde sie so zurichteten?
    Es hatte etwas mit Schutz zu tun. Mit dem Wunsch, beschützt zu werden. Mit dem Versuch, jemanden dazu zu zwingen, sie zu beschützen. Ihr Vorhaben war gründlich misslungen.
    Langsam winkelte sie ihren rechten Arm an, zog ihn unter der Decke hervor und legte die Hand an ihren Kopf. Dann schob sie ihre Finger unter das Kopfkissen, wollte sehen, ob es bis zum Laken durchnässt war. Würde die Schwester ein frisches bringen? Hatte sie überhaupt bemerkt, wie nass es war, oder hatte Madoka sie mit ihrer ekelhaften Geschichte verscheucht?
    Sie zuckte zusammen, als sie unter dem Kissen etwas Hartes ertastete.
    Eine metallene Spitze bohrte sich in ihre Fingerkuppe. Sie stöhnte.
    Ihr Herz schlug wieder schneller, und sie zog den Gegenstand unter dem Kissen hervor und hob ihn sich vors Gesicht.
    Jetzt hielt sie die Luft an.
    Es war ein Kunststofffisch mit drei winzigen Haken daran.
    Ein Angelköder.
    „Nein“, entfuhr es ihr. „Das ist unmöglich. Nicht … hier in Deutschland …“
    Sie holte aus und schleuderte den Köder ungeschickt durchs Zimmer. Er flog auf das Fenster zu und blieb in der Gardine hängen.
    Madoka presste die Augen zu und wünschte sich, tot zu sein.
    Ihr Albtraum begann jetzt erst recht …

2
    Japan, 1996
    „Und was ist mit dem grünen? Das grüne ist doch hübsch!“ Die schrille Stimme klang durch das Treppenhaus nach oben. Die Frau, der sie gehörte, war klein und in mittlerem Alter. Reiko Sanagi stand vor dem mannshohen Spiegel in der Diele und tupfte fahrig an ihren halblangen Haaren herum, die sich unter ihren Berührungen kaum regten. Es war, als hätte sie eine dunkle Badekappe auf dem Kopf. Mit einem klaren Zuviel an Haarspray hatte sie sich selbst die Frisur ruiniert, sie wusste es, und es machte sie rasend. Zähneknirschend zog sie Grimassen und versuchte ihre Haare durchzukämmen. Die Grimassen gelangen, das Durchkämmen funktionierte nicht.
    „Das grüne sieht aus, als wäre in der Wäscherei ein Unfall passiert“, kam die Antwort einer jüngeren Frau aus dem Obergeschoss.
    „Pass auf, was du sagst“, rief Reiko vor dem Spiegel. Dann wurde ihre Stimme sanfter: „Was ist mit dem blauen, Kaori-chan? Du hast es noch nie getragen.“
    „Welches blaue meinst du eigentlich? Da hängen drei, und eins ist hässlicher als das andere.“
    Ein kleiner Mann mit struppigen Haaren und großem Gesicht stolperte in den Raum. Er schloss mit einem Ruck seinen Hosenladen und nestelte dann an seiner Krawatte herum. „Wir sind spät dran“, brummte er. Seine Mundwinkel waren weit herab gezogen und seine Miene ein planloses Gewirr von Stressfalten.
    „Es wird noch viel später werden. Kaori kann sich nicht entscheiden“, erwiderte die Frau und überließ ihm nur zu gerne den Spiegel. Sie wollte nicht, dass er bemerkte, wie unzufrieden sie mit ihren Haaren war. Wenn sie ihn nicht mit dem Kopf darauf stieß, würde es ihm wahrscheinlich nicht auffallen. Yôshi Sanagi achtete seit etwa zehn Jahren nicht mehr sehr darauf, wie seine Frau aussah.
    „Du kaufst ihr zu viele Sachen“, bemerkte Yôshi beinahe beiläufig.
    „Mama, ich brauche ein rotes Kleid“, war die quengelnde Stimme zu vernehmen.
    Reiko holte tief Luft. „Dann nimm das, das dir deine Tante zum Geburtstag geschenkt hat. Es ist rot!“
    „Es ist bordeaux“, kam die Antwort unverzüglich. „Das ist ein Unterschied wie weiß und grau.“
    Yôshi blickte ärgerlich auf die Uhr. „Sag ihr, sie soll sich endlich zusammenreißen“, zischte er. „Sonst bleibt sie einfach zu Hause.“
    „Sag du’s ihr doch! Ich bin schon ganz heiser vom Schreien. Das geht schon eine halbe Stunde so.“
    „Deine Mutter sagt, du sollst dir jetzt was anziehen und runterkommen. Falls du noch mitkommen möchtest!“, rief der Vater. Seine Stimme war ohne Nachdruck, irgendwie müde, wie meist, wenn er mit seiner Tochter sprach. Er reckte den Hals, zog den Krawattenknoten an – und lockerte ihn wieder, als er Zeuge wurde, wie sich sein Gesicht verfärbte.
    „Ich will ein rotes Kleid, jetzt sofort“, beharrte Kaori. Ihr Zimmer lag gleich am oberen Ende der Treppe, und man konnte von unten sehen, dass die Tür offen stand.
    „Wie stellst du dir das vor?“, brüllte ihre Mutter.
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