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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri
Autoren: Martin Clauß
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weshalb die Schwerverletzte mit ihr reden wollte? Jaqueline und Isabel waren sich nie ganz grün gewesen. Seit Jaqueline die Schwarzgekleidete an ihrem Geburtstag vor allen bloßgestellt hatte, hatten sie kein Wort mehr miteinander gewechselt. Spielte Isabel ihr womöglich sogar einen Streich?
    Als sie sich auf den Weg machte, stellte sie sich darauf ein, dass sie wie eine Idiotin dastehen würde, falls Madoka von nichts wusste. Sie war so tief in Gedanken versunken, dass sie die rote Lampe übersah, die neben der Tür brannte. Als sie in den Raum trat, waren zwei Schwestern gerade im Begriff, Madoka neu zu verbinden. Die Decke war zurückgeschlagen, Jaqueline sah einen schrecklich zugerichteten Oberkörper, aus dem Schläuche ragten, und prallte zurück. Madokas Blicke bohrten sich in ihre Augen, und die Besucherin erschrak darüber, wie lebendig diese Blicke waren, wie kraftvoll und durchdringend.
    „Bitte gehen Sie hinaus“, bellte eine der Schwestern kurz. Die junge Frau stolperte rückwärts wieder in den Flur hinaus. Wenn sie etwas hasste, dann, Dummheiten zu begehen. Sie hatte den Stolz vieler überdurchschnittlich intelligenter und gebildeter Menschen – der kleinste Fauxpas beschämte sie aufs Schwerste. Sie wusste, dass sie die begabteste Schülerin auf Falkengrund war. Alle anderen konnten ihr nicht das Wasser reichen. Die einzige, bei der sie nicht sicher war, lag in diesem Zimmer. Madoka war unnahbar und schweigsam, und es war unmöglich, ihre Klugheit und Bildung einzuschätzen. Sie mochte geistig zurückgeblieben sein … oder hyperintelligent.
    Die zehn Minuten, die Jaqueline vor der geschlossenen Tür wartete, wurden zu einer kleinen Ewigkeit. Am schlimmsten war, dass die Schwestern sie wie eine Idiotin behandelten, als sie das Zimmer freigaben. Sie erläuterten ihr geduldig die Bedeutung der roten Lampe und knipsten sie sogar zweimal an und aus, als müssten sie einem Kleinkind die Funktionsweise erklären.
    Jaqueline trat mit einer Entschuldigung auf den Lippen ein.
    Doch Madoka kam ihr zuvor.
    „Danke, dass du gekommen bist“, sagte sie, und Jaqueline überlegte unwillkürlich, ob die Japanerin sie jemals zuvor angesprochen hatte.
    „Keine Ursache“, erwiderte Jaqueline. Ihr fiel ein Stein vom Herzen, dass Isabel sie wohl doch nicht an der Nase herumgeführt hatte. „Ich muss mich entschuldigen. Ich hätte dich schon früher besuchen sollen.“
    Madoka sah sie reglos an. Ihre angespannte Miene verriet Schmerz. Jaqueline konnte sich vorstellen, wie schmerzhaft es gewesen sein musste, neue Pflaster und Verbände angelegt zu bekommen. Zumal man dazu die alten entfernen musste und es an dem Körper der Japanerin kaum eine heile Stelle zu geben schien.
    „Du hattest keinen Grund zu kommen“, sagte Madoka. Sie sprach sehr langsam und konzentriert. Ihr Deutsch war beinahe akzentfrei. „Margarete kommt, weil sie sich schuldig fühlt. Der Rektor kommt, weil er es für seine Pflicht hält. Isabel kommt, weil sie mir in die Augen sehen können möchte, falls ich auf Falkengrund und in ihr Zimmer zurückkehre. Und Melanie – Melanie kommt, weil sie mich leiden sehen will. Alle anderen haben keinen Grund, mich zu besuchen. Deshalb musste ich dir einen Grund geben.“
    Jaqueline sah sie verständnislos an.
    „Nimm dir einen Stuhl und setz dich“, befahl Madoka. „Ich möchte dich um etwas bitten.“
    Jaqueline zog einen von zwei Stühlen ans Bett und nahm darauf Platz. Es gab noch ein zweites Bett im Zimmer, doch dieses war leer. Unwillkürlich streiften ihre Blicke die Apparaturen. Die meisten davon waren abgeschaltet, schienen nur darauf zu warten, im Notfall in Betrieb genommen zu werden. Dies hier war nicht mehr die Intensivstation, aber man schien die Hälfte der Geräte von dort mitgebracht zu haben.
    „Wenn ich dir helfen kann …“, sagte Jaqueline mechanisch.
    „Du kennst dich mit Computern aus“, kam Madoka sofort zur Sache. „Kannst du für mich eine Nachricht ins Internet setzen? Es ist sehr wichtig. Aber du musst zuerst schwören, niemandem etwas davon zu erzählen …“

4
    Japan, 1996
    „Hey, schon gemerkt? Wir sind allein.“
    „Wie meinst du das?“
    Die anderen waren nämlich alle noch da. Sam richtete sich in seinem Sessel auf, streckte sich mit einem müden Ächzen und drehte den Kopf demonstrativ nach beiden Seiten. Drei Mädchen saßen mehr oder weniger lässig auf der breiten hellgrauen Couch rechts von ihm, ein viertes auf einem Sessel, der dem seinen aufs Haar
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