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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri
Autoren: Martin Clauß
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können. In seinen Augen allerdings war die Verlegenheit eines Kindes.
    Madoka wusste, dass Kazuo sie im Grunde mochte. Und sie ihn.
    Aber das funktionierte nicht. Das Leben hatte sie zu Gegnern gemacht, als sie zwei Jahre alt gewesen war, und Versuche wie jener, den Kazuo gerade unternahm, würden zu nichts führen.
    Trotzdem wollte sie ihm eine Chance geben. Er hatte die Verbote ihres Vaters missachtet, sich alleine mit Madoka zu treffen. Er meinte es gut, hatte den Mut, einen neuen Anfang zu versuchen.
    „Ich möchte dir einen Fisch fangen“, sagte er plötzlich und stapfte ins Meer hinaus. In seiner Hand lag ein kleiner Wurfspeer. „Hier ist die beste Stelle auf zehn Kilometer.“
    „Nicht“, bat die Neunjährige leise.
    Kazuo kannte sich mit dem Fischen aus. Ob er mit dem Fischkutter hinausfuhr und die Netze auswarf, ob er sich mit der Angel auf einen Felsen setzte – er fing immer etwas. Sogar den Wurfspeer beherrschte er, ein Relikt der Vergangenheit, das er sich selbst gefertigt hatte.
    Waren seine ersten Schritte noch sorglos gewesen, wurden sie nun langsamer, besonnener, je weiter er ins tiefe Wasser vordrang. Die Fische sollten nicht verscheucht werden. Zwei Minuten lang stand er reglos bis zu den Oberschenkeln im Wasser, die Harpune erhoben.
    Madoka wollte sich abwenden, aber sie konnte nicht.
    „Bitte, komm zurück!“, flehte sie ihn an. „Ich will den Fisch nicht!“ Sie ging ein paar Schritte, bis ihre leichten Sandalen von der Brandung überschwemmt wurden.
    In dem Augenblick, in dem ihr Bruder die Hand fester um den Speer schloss und leicht ausholte, brach etwas aus Madoka hervor und raste auf ihn zu. Es war vollkommen unsichtbar und lautlos. Doch sie spürte es. Und sie roch es. Es roch intensiver als das ganze Meer zusammen. Nur für einen Moment.
    Was immer es war, es versetzte Kazuo einen kleinen Stoß gegen die Schulter, er verriss die herabsausende Harpune, und die stählerne Spitze des Speers bohrte sich in seinen Fuß!
    Schreiend und mit von Tränen überfließenden Augen kam er aus dem Meer gewatet. Als er sich an den Strand fallen ließ, sah Madoka, wie der Ausdruck in seinen Augen dreimal wechselte.
    Von Schreck nach Schmerz.
    Von Schmerz nach Scham über sein Ungeschick.
    Von Scham nach Hass. Hass gegen Madoka.
    Sie musste sich abwenden, weil sie den Anblick nicht ertrug.

6
    Japan
    Die Andô Privatklinik für Psychiatrie lag wenige Kilometer nördlich von Tôkyô, in Urawa, einer der Städte, die längst untrennbar mit der Millionenmetropole verschmolzen waren. Sie war in einem dreistöckigen hellblauen Gebäude untergebracht, zwischen zwei Parks gelegen. Die kleinere der beiden Grünflächen gehörte zum Gelände der Klinik, die größere der Stadt. Unweit des Gebäudes lief eine belebte Ladenstraße vorbei, und die Parkplätze der Anstalt grenzten an die eines Supermarktes der Daiei-Kette. Über dem hellen, kühl wirkenden Eingangsbereich brannten Tag und Nacht die weißen quadratischen Lampen mit den schwarzen Schriftzeichen darauf. Der Name war nüchtern und ließ keinen Zweifel an dem Zweck des Gebäudes: Andô Seishin Byôin – Psychiatrische Klinik Andô.
    Die Pforte war von sieben Uhr morgens bis neun Uhr abends besetzt. Zwei über siebzigjährige Männer versahen dort abwechselnd den Dienst und besserten mit dem kläglichen Lohn ihre Rente auf, doch sie hatten ausgesprochen wenig zu tun. Die meiste Zeit verbrachten sie mit derselben Beschäftigung, der auch die Patienten der Privatklinik überwiegend frönten – dem Fernsehen. Auf einem winzigen Monitor verfolgten sie die grellen Shows und Sumô-Übertragungen, nippten an ihren Oolong-Tees, blätterten in den Werbeprospekten, die mit der Post gekommen waren, und machten den ganzen Tag über einen schläfrigen Eindruck.
    Besucher wurden nicht gerne gesehen, und die meisten Angehörigen schienen geradezu aufzuatmen, wenn sie über diese Klausel im Krankenhausvertrag aufgeklärt wurden. Es war nicht einfach, mit Menschen zu reden, die einen Suizidversuch hinter sich hatten. Man hatte keinen sehnlicheren Wunsch als zu hören, der Besuch sei nicht erwünscht. Wer sich von den abweisenden, müden Gestalten an der Pforte nicht abwimmeln ließ, wurde in das Büro von Dr. Fumio Andô geführt. Dort ließ man ihn bei einem Tässchen Grüntee bis zu zwei Stunden warten, ehe der vielbeschäftigte Arzt sich mit einer nebenbei gemurmelten Entschuldigung einfand. Mit aller Deutlichkeit, aber in großer Eile, klärte der Mediziner
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