Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fahrenheit 451

Fahrenheit 451

Titel: Fahrenheit 451
Autoren: Ray Bradbury
Vom Netzwerk:
dem Flußufer wartete die Morgenröte.
    »Wieso traut ihr mir eigentlich?« fragte Montag.
    Im Dunkeln regte sich einer.
    »Dein Aussehen genügt. Du hast dich schon lange nicht mehr im Spiegel betrachtet. Außerdem hat der Stadt nie so viel an uns gelegen, daß man unseretwegen eine solche Hetzjagd in Szene gesetzt hätte wie in deinem Fall. Ein paar komische Käuze mit Versen im Kopf können niemand was anhaben, das wissen die in der Stadt genau, und wir wissen es auch; jedermann weiß es. Solange nicht die ganze Bevölkerung auf die Walz geht, Freiheitsbrief und Verfassung im Munde führend, solange ist alles in Ordnung. Um ab und zu einmal einzugreifen, dazu hatte man ja die Feuerwehr. Nein, die Stadt ficht uns nicht an. Und du siehst aus wie der verkörperte Zorn Gottes.«
    Sie zogen das Flußufer entlang nach Süden. Montag suchte die Gesichter der andern zu erforschen, die alten Gesichter, die er vom Feuerschein her in Erinnerung hatte, zerfurcht und müde. Was er in ihren Zügen suchte, war eine Aufgewecktheit, eine Entschlossenheit und Siegeszuversicht, von der kaum etwas zu bemerken war. Vielleicht hatte er erwartet, einen schimmernden Abglanz der Erkenntnisse zu sehen, die sie mit sich herumtrugen, Gesichter, von innen her erleuchtet wie Laternen. Aber alles Licht war vom Lagerfeuer gekommen, und die Männer sahen nicht anders aus als alle, die einen langen Weg hinter sich haben, eine lange Sucharbeit, und Zeuge waren, wie Gutes unterging, und nun in vorgerückter Stunde sich zusammenfinden, um das Ende des Festes abzuwarten und das Löschen der Lichter. Sie waren durchaus nicht sicher, daß das, was sie im Kopf mitführten, jede künftige Morgenröte in reinerem Licht erstrahlen lassen werde; nichts war sicher, als daß die Bücher hinter ihrer Stirn aufgehoben waren, daß die Bücher dort warteten, unaufgeschnitten, auf Käufer, die später einmal vorbeikommen mochten, die einen mit sauberen, andere mit schmutzigen Fingern.
    Montag sah sich im Gehen ein Gesicht nach dem andern von der Seite her an.
    »Beurteile ein Buch nicht nach dem Umschlag«, sagte jemand.
    Und alle lachten vor sich hin, während sie weiter flußabwärts zogen.
     
    Ein Gellen in der Luft, und die Düsenflugzeuge aus der Stadt waren längst vorüber, ehe die Männer aufblickten. Montag sah zur Stadt zurück, weit oben am Fluß jetzt nur noch ein schwaches Glimmen.
    »Meine Frau ist noch dort.«
    »Das tut mir aber leid«, versicherte Granger. »Den Städten wird es in den nächsten paar Tagen nicht gutgehen.«
    »Es ist merkwürdig, ich vermisse sie nicht, es ist überhaupt merkwürdig, wie wenig Gefühl mir geblieben ist«, bemerkte Montag. »Selbst wenn sie umkommt, fiel mir eben ein, werde ich ihr wohl nicht nachtrauern. Es ist nicht recht. Mit mir stimmt etwas nicht.«
    »Hör mal zu«, sagte Granger, hakte sich bei ihm ein und ging neben ihm her, wobei er jeweils die Stauden zur Seite hielt, um ihn durchgehen zu lassen. »Als ich noch ein kleiner Junge war, starb mein Großvater, ein Bildhauer. Er war ein großer Menschenfreund gewesen, der viel Liebe an die Welt abzugeben hatte. Er hatte geholfen, mit den Elendsvierteln unserer Stadt aufzuräumen, er hatte Spielzeug für uns verfertigt und überhaupt im Laufe seines Lebens unendlich viel getan; immer mußten seine Hände etwas tun. Und als er starb, kam mir plötzlich zum Bewußtsein, daß ich nicht seinetwegen weinte, sondern all der Dinge wegen, die er getan. Ich weinte, weil er sie nun nie mehr tat, nie mehr ein Stück Holz zurechtschnitzte oder uns bei der Aufzucht von Tauben half oder Geige spielte, so wie er es getan, oder uns Witze erzählte, so wie er es getan. Er war ein Stück von uns, und als er starb, war all sein Tun wie abgeschnitten, und keiner war da, der für ihn hätte einspringen können. Er war unersetzlich, ein Mensch, der etwas bedeutet hatte. Ich habe es nie ganz verwunden. Noch jetzt denke ich oft, was für wunderbare Schnitzereien nie zustande gekommen sind, weil er starb. Wie viele Witzworte fehlen auf der Welt und wie viele Brieftauben, die nicht durch seine Hände gingen. Er gab der Welt Gestalt. Er hat auf sie eingewirkt. Die Welt ging unendlicher Wohltaten verlustig in jener Nacht, als er starb.«
    Montag ging schweigend einher. »Millie, Millie«, sagte er dann vor sich hin. »Millie.«
    »Wie?«
    »Meine Frau, meine Frau. Die arme Millie. Ich weiß gar nichts mehr von ihr. Ich denke an ihre Hände, aber ich sehe sie nicht, wie sie etwas tun. Sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher