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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah
Autoren: Jonathan Safran Foer
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kaufen wollte, schrieb ich auf die nächste leere Seite: »Zwei Brötchen, bitte« und zeigte sie ihm, und wenn ich Hilfe brauchte, schrieb ich: »Hilfe«, und wenn ich über etwas lachen musste, schrieb ich: »Ha, ha, ha!«, und statt unter der Dusche zu singen, schrieb ich die Texte meiner Lieblingslieder auf, die Tinte färbte das Wasser blau oder rot oder grün, und die Musik lief mir an den Beinen hinunter, am Ende jeden Tages nahm ich das Buch mit ins Bett und ging die Seiten meines Lebens durch:

Zwei Brötchen, bitt e

Ich hätte nichts gegen etwas Süßes einzuwende n

Tut mir Leid, aber ich habe es nicht kleine r

Sag es allen weiter …

Das Übliche, bitt e

Vielen Dank, aber ich platze gleic h

Weiß nicht genau, auf jeden Fall schon ziemlich spä t

Hilf e

Ha, ha, ha !

Noch vor dem Ende des Tages gingen mir oft die leeren Sei ten aus, und wenn ich dann jemandem auf der Straße oder in der Bäckerei oder an der Bushaltestelle etwas sagen musste, blieb mir nichts anderes übrig, als mein Tagebuch nach einem Satz zu durchforsten, den ich wiederverwenden konnte, wenn mich jemand fragte: »Und wie geht es dir?«, konnte die pas sendste Antwort lauten: »Das Übliche, bitte«, oder vielleicht auch: »Ich hätte nichts gegen etwas Süßes einzuwenden«, wenn mir Mr Richter, mein einziger Freund, vorschlug: »War um versuchst du es nicht einmal wieder mit einer Skulptur? Was soll denn schon Schlimmes passieren?«, raschelte ich durch die Seiten meines vollen Buches: »Weiß nicht genau, auf jeden Fall schon ziemlich spät.« Ich verbrauchte Hunderte von Büchern, Tausende davon, sie lagen überall in der Wohnung herum, ich benutzte sie als Türstopper und Papierbeschwerer, ich stieg darauf, wenn ich an etwas herankommen musste, ich schob sie unter die Beine wackeliger Tische, ich benutzte sie als Bierdeckel und Untersetzer, ich legte die Vogelkäfige mit ihnen aus und erschlug damit Insekten, die ich hinterher um Vergebung bat, ich hielt meine Bücher nie für etwas Besonde res, sondern nur für notwendig, manchmal riss ich eine Seite heraus – »Tut mir Leid, aber ich habe es nicht kleiner« –, um irgendeine Schweinerei aufzuwischen, und manchmal riss ich einen ganzen Tag aus meinem Leben, um damit die Notreser ve an Glühlampen einzuwickeln, ich erinnere mich an einen Nachmittag, den ich mit Mr Richter im Zoo des Central Park verbrachte, ich war schwer mit Futter für die Tiere beladen, nur ein Mensch, der nie ein Tier gewesen ist, kann Schilder aufhängen, die das Füttern untersagen, Mr Richter erzählte ei nen Witz, ich warf den Löwen Hamburger hin, er rüttelte mit seinem Lachen an den Käfigstäben, die Tiere trotteten in die Ecken ihres Geheges, wir lachten und lachten, gemeinsam und

jeder für sich, schweigend und laut, wir genossen unsere Gesellschaft und uns selbst auf die beste und ehrlichste Art, wir waren entschlossen, alles zu verdrängen, was verdrängt werden musste, aus dem Nichts eine neue Welt zu erschaffen, wenn an unserem Leben schon nichts mehr zu retten war, es war einer der besten Tage meines ganzen Lebens, ein Tag, an dem ich einfach nur lebte, ohne über mein Leben nachzudenken. Später im Jahr, als der Schnee die Eingangsstufen des Hauses allmählich zudeckte, als ich begraben unter allem, was ich verloren hatte, auf dem Sofa saß und der Morgen zum Abend wurde, machte ich mir ein Feuer und entfachte es mit meinem Lachen: »Ha, ha, ha!« »Ha, ha, ha!« »Ha, ha, ha!« »Ha, ha, ha!« Als ich deiner Mutter begegnete, hatte ich schon längst keine Wörter mehr, vielleicht hat das unsere Heirat überhaupt erst möglich gemacht, sie brauchte mich nie wirklich kennen zu lernen. Wir begegneten uns in der Columbian Bakery am Broadway, wir waren beide einsam, gebrochen und verwirrt nach New York gekommen, ich saß in der Ecke und rührte im Kaffee die Sahne um, ich ließ den Löffel in der Tasse kreisen, unablässig, es war ein kleines Sonnensystem, der Laden war halb leer, aber sie glitt neben mich auf die Bank, »Du hast alles verloren«, sagte sie, als teilten wir ein Geheimnis, »das sehe ich.« Wäre ich ein anderer Mensch in einer anderen Welt gewesen, dann hätte ich mich auch anders verhalten, aber ich war ich selbst, und die Welt war, wie sie war, und deshalb schwieg ich. »Ist schon gut«, flüsterte sie, den Mund zu dicht an meinem Ohr, »ich bin genauso. Das sieht man schon von weitem. Ist nicht, als wäre man Italiener. Wir stechen hervor wie Aussätzige. Schau doch nur,
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