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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah
Autoren: Jonathan Safran Foer
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links –, damit mein Gesprächspartner sah, was ich selbst nicht sagen konnte, und wenn ich telefonierte, wählte ich die Nummern – 2, 6, 6, 2 –, damit mein Gesprächspartner hörte, was ich selbst nicht sagen konnte. Als Nächstes ging mir das Wort »und« verloren, vielleicht, weil mich dieses Wort mit ihr verband, was für ein einfaches Wort, so leicht auszusprechen, was für ein schwer wiegender Verlust, ich musste »plus« sagen, das klang absurd, aber es war nicht zu ändern, »ich hätte gern einen Kaffee plus etwas Süßes«, wer möchte schon so sein. »Wollen« war ebenfalls ein Wort, das mir früh verloren ging, was nicht hieß, dass ich plötzlich nichts mehr gewollt hätte – ich wollte im Gegenteil umso mehr –, ich konnte meine Wünsche einfach nicht mehr in ein Wort kleiden, also sagte ich stattdessen »begehre«, »ich begehre zwei Brötchen«, sagte ich zum Bäcker, was natürlich nicht ganz passte, der Sinn meiner Gedanken entglitt mir wie Blätter, die von einem Baum in einen Fluss fallen und davonschwimmen, der Baum war ich, der Fluss war die Welt. Als ich eines Nachmittags mit den Hunden im Park war, ging mir »komm« verloren, »gut« ging mir verloren, als mir der Friseur nach dem Schneiden den Spiegel hinhielt, »heulen« ging mir verloren – Verb und Substantiv, beides zugleich, es war zum Heulen. Ich verlor »tragen«, ich verlor die Dinge, die ich bei mir trug – »Tagebuch«, »Wechselgeld«, »Brieftasche« –, ich verlor sogar »Verlust«. Nach einiger Zeit hatte ich nur noch eine Hand voll Wörter, einen Gefallen nannte ich: »Die Sache, für die man sich bedankt«, wenn ich hungrig war, zeigte ich auf meinen Bauch und sagte: »Ich bin das Gegenteil von satt«, das »Ja« war mir verloren gegangen, aber ich hatte noch das »Nein«, also antwortete ich auf die Frage: »Bist du Thomas?« mit: »Nicht nein«, aber dann ging mir auch das »Nein« verlo ren, ich suchte einen Tattoo-Laden auf und ließ mir JA auf die linke Handfläche und NEIN auf die rechte Handfläche täto wieren, was soll ich sagen, das Leben wurde dadurch zwar nicht schöner, aber immerhin lebbarer, wenn ich mir mitten im Winter die Hände reibe, wärmt mich die Reibung von JA und NEIN , wenn ich in die Hände klatsche, zeige ich meinen Beifall durch die Trennung und Vereinigung von JA und NEIN , ich sage »Buch«, indem ich meine gefalteten Hände langsam auseinander falte, für mich stellt jedes Buch eine Ba lance zwischen JA und NEIN dar, selbst dieses, mein letztes, ganz besonders dieses. Bricht es mir das Herz? Natürlich, in jeder Sekunde an jedem Tag und in mehr Teile als die, aus denen es besteht, ich habe mich nie für einen stillen Menschen gehalten, schon gar nicht für einen schweigsamen, im Grunde habe ich nie darüber nachgedacht, alles ist anders, was mich von meinem Glück getrennt hat, war nicht die Welt, es waren nicht die Bomben und brennenden Häuser, ich war es, mein Denken, das Krebsgeschwür des Nicht-Loslassen-Könnens, ist Unwissenheit ein Glück, ich weiß es nicht, aber das Denken tut so weh, und wer kann mir verraten, was ich je durch das Denken erreicht habe, an welche herrlichen Orte hat mich das Denken je geführt? Ich denke und denke und denke, ich habe mich eine Million Mal aus dem Glück hinausgedacht, aber nicht einmal hinein. »Ich« war das letzte Wort, das ich noch sagen konnte, eigentlich furchtbar, aber so war es, ich lief durch mein Viertel und sagte: »Ich, ich, ich, ich.« »Möchtest du eine Tasse Kaffee, Thomas?« »Ich.« »Und vielleicht auch etwas Süßes?« »Ich.« »Wie findest du das Wetter?« »Ich.« »Du wirkst so verstört. Stimmt etwas nicht?« Ich hätte gern geantwortet: »Natürlich nicht«, ich hätte gern gefragt: »Was stimmt denn schon?« Ich hätte gern am Faden gezupft und den Schal meines Schweigens aufgeribbelt und wieder ganz von vorn begonnen, aber stattdessen sagte ich: »Ich.« Mir ist klar, dass ich nicht der Einzige mit dieser Krankheit bin, auf der Straße kann man alte Menschen hören, und manche von ihnen stöhnen: »Ach, ach, ach«, aber manche klammern sich auch an ihr letztes Wort, »Ich«, sagen sie, weil sie völlig verzweifelt sind, es ist kein Gejammere, es ist ein Gebet, und dann ging mir »Ich« verloren, und mein Schweigen war komplett. Ich begann, Bücher mit leeren Seiten mit mir herumzutragen, so wie dieses, und ich füllte sie mit allem, was ich nicht sagen konnte, so fing es an, wenn ich beim Bäcker zwei Brötchen
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