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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah
Autoren: Jonathan Safran Foer
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überhaupt? Ich hob ihren Finger, als wäre es die Nadel eines Plattenspielers, und blätterte zurück, eine Seite nach der anderen:

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GUGOLPLEX
    Was das Armband angeht, das Mom bei der Beerdigung trug, so hatte ich Dads letzte Nachricht in Morsecode übertragen. Für die Pausen benutzte ich himmelblaue Perlen, lila Perlen für die Abstände zwischen den Buchstaben, und zwischen die Perlen flocht ich lange und kurze Bänder, die die langen und kurzen Piepse darstellten, die eigentlich Blips heißen, glaube ich, jedenfalls so ähnlich. Dad hätte es bestimmt gewusst. Ich brauchte neun Stunden dafür, und ich hatte erst überlegt, es Sonny zu schenken, dem Obdachlosen, der manchmal vor der Alliance Française steht und von dessen Anblick ich Bleifüße bekomme, oder vielleicht Lindy, der schicken, alten Dame, die ehrenamtlich Führungen im Museum of Natural History macht, weil ich dann ein besonderer Mensch für sie gewesen wäre, oder vielleicht einfach jemandem, der im Rollstuhl sitzt. Stattdessen schenkte ich es Mom. Sie meinte, es sei das schöns te Geschenk, das sie je bekommen habe. Ich fragte sie, ob es besser als der essbare Tsunami von damals sei, als ich mich noch für essbare meteorologische Phänomene interessiert hatte. Sie sagte: »Anders.« Ich fragte sie, ob sie Ron liebe. Sie sagte: »Ron ist ein wunderbarer Mensch«, aber das war die Antwort auf eine Frage, die ich gar nicht gestellt hatte. Also fragte ich noch einmal: »Liebst du Ron?« Sie legte sich die Hand mit dem Ring auf ihr Haar und sagte: »Oskar, Ron ist ein Freund .« Ich hätte sie am liebsten gefragt, ob sie mit Ron poppe, und wenn sie Ja gesagt hätte, wäre ich weggerannt, und wenn sie Nein gesagt hätte, hätte ich sie gefragt, ob sie schweres Petting machten, eine Sache, über die ich Bescheid weiß. Ich hätte ihr am liebsten gesagt, dass sie noch kein Scrabble spielen solle. Oder noch nicht in den Spiegel schauen. Oder die Stereoanlage nur so laut stellen, dass man gerade eben etwas hört. Alles andere wäre unfair gegenüber Dad, und alles andere wäre unfair gegenüber mir. Aber ich schluckte die Fragen runter. Ich machte ihr noch mehr Morsecodeschmuck mit Dads Nachrichten – eine Halskette, einen Fußring, ein Paar lange Ohrringe, ein Diadem –, aber das Armband war eindeutig am schönsten, vielleicht, weil es sich dabei um die letzte Nachricht handelte. Dadurch war es am kostbarsten. »Mom?« »Ja?« »Nichts.«
    Selbst nach einem Jahr hatte ich noch große Schwierigkeiten mit ganz einfachen Dingen, Duschen zum Beispiel, aus unerfindlichen Gründen, und Fahrstuhlfahren, versteht sich von selbst. Es gab jede Menge Sachen, bei denen ich panisch wurde, etwa Hängebrücken, Bazillen, Flugzeuge, Feuerwerke, Araber in der U-Bahn (obwohl ich kein Rassist bin), Araber in Restaurants und Coffee Shops und an anderen öffentlichen Orten, Baugerüste, Gullideckel und die Gitter in den U-Bahn-Stationen, herrenlose Taschen, Schuhe, Leute mit Schnurrbart, Rauch, Haarknoten, hohe Gebäude, Turbane. Die meiste Zeit hatte ich das unangenehme Gefühl, mich mitten in einem riesigen, schwarzen Ozean oder in einem tiefen Raum zu befinden. Ich hatte eher das Gefühl, als wäre alles unglaublich weit weg. Nachts war es am schlimmsten. Ich fing an, mir Sachen auszudenken, und dann konnte ich nicht mehr damit aufhören, genau wie Biber, über die ich Bescheid weiß. Die Leute glauben, dass sie Bäume fällen, um ihre Dämme damit zu bauen, aber in Wahrheit tun sie das, weil ihre Zähne unaufhörlich weiterwachsen, und wenn sie sie nicht ständig abschleifen würden, indem sie all die Baumstämme durchnagen, würden ihnen die Zähne ins Gesicht wachsen, und das wäre ihr Tod. So ging es mir damals mit meinem Gehirn.
    Eines Nachts, als ich das Gefühl hatte, mir gugolplexviele Sachen ausgedacht zu haben, ging ich in Dads Kleiderkam mer. Dort hatten wir immer im griechisch-römischen Stil miteinander gerungen und uns die irrsten Witze erzählt, und einmal hatten wir unter der Decke ein Pendel aufgehängt und Dominosteine im Kreis aufgestellt, um zu beweisen, dass sich die Erde dreht. Seit seinem Tod hatte ich die Kammer nicht mehr betreten. Mom war mit Ron im Wohnzimmer, sie hör ten zu laut Musik und spielten irgendwelche Brettspiele. Sie vermisste Dad nicht. Bevor ich eintrat, behielt ich eine ganze Weile den Türknauf in der Hand.
    Dads Sarg mochte leer sein, aber seine Kammer war voll. Und selbst nach mehr als einem Jahr roch sie immer
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