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Kloster Northanger

Kloster Northanger

Titel: Kloster Northanger
Autoren: Jane Austen
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Kapitel 1
    Wer Catherine Morland als Kind gesehen hatte, wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass sie zur Romanheldin bestimmt war. Ihre Lebensumstände, der Charakter ihres Vaters und ihrer Mutter, ihre äußere Erscheinung und ihr Naturell – alles sprach gleichermaßen gegen sie. Ihr Vater war Pfarrer, dabei aber durchaus nicht zu kurz gekommen oder verarmt, sondern ein sehr angesehener Mann, obwohl er Richard hieß 1 – und eine Schönheit war er auch nie gewesen. Er besaß neben seinen beiden einträglichen Pfarrstellen ein beträchtliches Vermögen und hatte ganz und gar nicht die Angewohnheit, seine Töchter hinter Schloss und Riegel zu sperren. Ihre Mutter war eine schlichte, lebenstüchtige Frau von gleichmäßiger Freundlichkeit und – man höre und staune – unverwüstlicher Konstitution. Sie hatte schon drei Söhne, als Catherine zur Welt kam, und anstatt, wie man doch wohl erwarten durfte, bei ihrer Geburt zu sterben, lebte sie einfach weiter – lebte weiter und gebar sechs weitere Kinder, sah sie alle um sich herum aufwachsen und erfreute sich dabei selbst auch noch bester Gesundheit. Eine Familie mit zehn Kindern kann immer Anspruch auf das Wort »stattlich« erheben; dafür sorgt schließlich schon die Zahl der Köpfe und Arme und Beine, aber bei den Morlands gründete sich das Anrecht auf diese Auszeichnung auf wenig anderes, denn sie waren im Großen und Ganzen recht bieder, und ausgesprochen bieder war viele Jahre lang auch Catherine. Sie war mager und ungelenk, hatte einen blassen, glanzlosen Teint, glattes, dunkles Haar und ausgeprägte Züge. Soweit ihre äußere Erscheinung; ihre geistigen Gaben ließen die zukünftige Romanheldin auch nicht gerade ahnen. Sie liebte alle Jungenspiele und zog Cricket bei weitem nicht nur Puppen, sondern auch den Kindheitsvergnügen vor, mit denen sich Romanheldinnen im Allgemeinen die Zeit vertreiben, wie der Pflege einer kleinen Hausmaus, dem Füttern eines Kanarienvogels oder dem Gießen eines Rosenstrauchs. Ohnehin hatte sie mit Gärten nichts im Sinn, und wenn sie überhaupt Blumen pflückte, dann hauptsächlich aus Schabernack – jedenfalls musste man das daraus schließen, dass sie immer gerade die aussuchte, die sie auf keinen Fall nehmen sollte. So stand es um ihre Neigungen; um ihre Talente war es nicht minder vielversprechend bestellt. Sie lernte oder verstand nie etwas, bevor man es ihr erklärte – und manchmal nicht einmal dann, denn sie war oft unaufmerksam und gelegentlich sogar begriffsstutzig. Ihre Mutter brauchte volle drei Monate dazu, ihr »Des Bettlers Bitte« beizubringen, und sogar dann konnte ihre nächstjüngere Schwester Sally es immer noch besser als sie. Aber nicht, dass Catherine durchweg begriffsstutzig war, keineswegs; sie lernte die Fabel vom »Hasen und seinen vielen Freunden« im Handumdrehen. 2 Ihre Mutter wollte, dass sie Klavierspielen lerne, und Catherine war Feuer und Flamme, denn es machte ihr großen Spaß, auf dem alten, unbenutzt herumstehenden Spinett zu klimpern, und so fing sie mit acht Jahren an. Nach einem Jahr war’s mit der Lust vorbei, und Mrs. Morland, die nicht darauf bestand, dass ihre Töchter sich trotz mangelnder Begabung und mangelndem Geschmack Bildung aneigneten, erlaubte ihr, damit aufzuhören. Der Tag, an dem ihr Klavierlehrer entlassen wurde, war einer der glücklichsten in Catherines Leben. Auch ihr Talent zum Zeichnen war nicht überragend, obwohl sie sich damit alle Mühe gab und mehr oder minder gleich aussehende Häuser und Bäume, Hühner und Küken zeichnete, wenn sie der Rückseite eines Briefes ihrer Mutter habhaft werden oder irgendein anderes Stück Papier erwischen konnte. Schreiben und Rechnen lernte sie von ihrem Vater, Französisch von ihrer Mutter, aber in keinem waren ihre Kenntnisse überwältigend, und sie schwänzte die Stunden, wann immer sie konnte. Was für ein sonderbarer, unergründlicher Charakter! Denn trotz all dieser Anzeichen von Verworfenheit im zarten Alter von zehn Jahren hatte sie weder ein schlechtes Herz noch einen schlechten Charakter, war selten bockig, fast nie unverträglich und trotz gelegentlicher tyrannischer Anfälle rührend zu den Kleinen; obendrein war sie laut und wild, hasste Stubenarrest und Sauberkeit und liebte es über alle Maßen, den grünen Abhang hinter dem Haus hinunterzurollen.
    So war Catherine Morland mit zehn. Mit fünfzehn wuchs sie sich zurecht; sie fing an, sich Locken zu drehen und für Bälle zu interessieren; ihr Teint wurde
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