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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah
Autoren: Jonathan Safran Foer
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noch nach Rasieren. Ich berührte alle seine weißen T-Shirts. Ich be rührte die protzige Armbanduhr, die er nie getragen hatte, und die Ersatzschnürbänder seiner Sneaker, die nie wieder um das Reservoir laufen würden. Ich fasste in die Taschen all seiner Jacken (ich fand eine Taxiquittung, das Einwickelpapier eines Schokoriegels und die Visitenkarte eines Diamantenhändlers). Ich schlüpfte in seine Hausschuhe. Ich betrachtete mich in seinem Schuhlöffel aus Metall. Im Durchschnitt schlafen die Menschen innerhalb von sieben Minuten ein, aber ich konnte nicht einschlafen, selbst nach Stunden nicht, und meine Blei füße wurden leichter, als ich zwischen seinen Sachen stand und die Dinge berührte, die er berührt hatte, und die Kleider bügel noch ein bisschen gerader rückte, obwohl ich wusste, dass es Unsinn war.
    Sein Smoking hing über dem Stuhl, auf dem er immer gesessen hatte, um sich die Schuhe zuzubinden, und ich dachte: Krass . Warum hing er nicht bei seinen Anzügen? War er in der Nacht vor seinem Tod auf einer schicken Party gewesen? Aber warum hatte er seinen Smoking dann nicht aufgehängt? Muss te der vielleicht in die Reinigung? Und an eine schicke Party konnte ich mich nicht erinnern. Ich konnte mich nur daran erinnern, dass er mich gut zugedeckt hatte, und dann hatten wir im Weltempfänger jemanden Griechisch sprechen hören, und dann hatte er mir eine Geschichte über New Yorks sechsten Bezirk erzählt. Wenn mir nichts weiter aufgefallen wäre, hätte ich den Smoking bestimmt schnell vergessen. Aber plötzlich fiel mir einiges auf.
    Auf dem obersten Regal stand eine hübsche, blaue Vase. Was hatte eine hübsche, blaue Vase dort oben zu suchen? Ich kam nicht dran, versteht sich von selbst, also schob ich den Stuhl mit dem Smoking vor das Regal, und dann ging ich in mein Zimmer, um Shakespeares Gesammelte Werke zu holen, die mir Oma gekauft hatte, als sie hörte, dass ich Yorick spielen sollte, und ich schleppte die Bücher hinüber, immer vier Tragödien auf einmal, bis der Stapel hoch genug war. Ich kletterte darauf, und eine Sekunde stand ich auch. Aber als ich die Vase mit den Fingerspitzen berührte, begannen die Tragödien zu schwan ken, und der Smoking lenkte mich unglaublich ab, und im nächsten Moment lag alles auf dem Fußboden, auch ich und die in Scherben gegangene Vase. »Das war ich nicht!«, brüllte ich, aber sie hörten mich gar nicht, weil die Musik zu laut war und weil sie zu laut lachten. Ich kroch in meinen inneren Schlafsack und zog den Reißverschluss bis ganz oben zu, nicht, weil ich verletzt gewesen wäre, und nicht, weil ich etwas zer brochen hatte, sondern weil sie lachten. Obwohl ich wusste, dass es falsch war, verpasste ich mir selbst einen Schlag und hatte gleich einen blauen Fleck.
    Als ich dann alles aufräumte, fiel mir noch etwas auf. Mitten zwischen den Glasscherben lag ein kleiner Umschlag, er hatte ungefähr die Größe einer drahtlosen Internet-Karte. Was zum? Ich öffnete ihn, und er enthielt einen Schlüssel. Was zum? Was zum? Der Schlüssel sah krass aus, offenbar war er für etwas ex trem Wichtiges, denn er war kürzer und gedrungener als ein normaler Schlüssel. Ich stand vor einem Rätsel: ein kurzer und gedrungener Schlüssel in einem kleinen Umschlag in einer blauen Vase oben auf dem höchsten Regal dieser Kammer.
    Zuerst tat ich das Naheliegendste, nämlich den Schlüssel klammheimlich in allen Schlössern unserer Wohnung auszu probieren. Dass er nicht zur Eingangstür passte, wusste ich auch so, denn er entsprach nicht dem Schlüssel, den ich an ei nem Band um den Hals trage, damit ich in die Wohnung kann, wenn niemand zu Hause ist. Um unbemerkt zu bleiben, lief ich auf Zehenspitzen, und ich probierte den Schlüssel an der Badezimmertür, den Schlafzimmertüren und den Schub laden von Moms Kommode aus. Ich probierte ihn am Tisch in der Küche aus, an dem Dad immer die Überweisungsfor mulare für Rechnungen ausgefüllt hatte, und am Schrank ne ben dem Wäscheschrank, in den ich manchmal beim Ver steckspielen gekrochen war, und an Moms Schmuckkassette. Der Schlüssel passte nirgendwo.
    Als ich abends im Bett lag, erfand ich einen ganz speziellen Abfluss. Er würde sich unter jedem Kopfkissen in New York befinden und wäre mit dem Reservoir verbunden. Die Tränen aller Menschen, die sich in den Schlaf weinten, würden an denselben Ort fließen, und am nächsten Morgen würde man im Wetterbericht den Pegelstand des Reservoirs erfahren, und dann wüsste
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