Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tokyo Love

Tokyo Love

Titel: Tokyo Love
Autoren: Hitomi Kanehara
Vom Netzwerk:
 
     
     
     
     
     
     
    »Du weißt, was eine split-tongue ist?«
    »Äh? … Ach so, du meinst eine gespaltene Zunge?«
    »Genau. So wie bei Eidechsen oder Schlangen. Menschen können auch solche Zungen haben.«
    Lässig nahm er die Zigarette aus dem Mund und streckte seine Zunge heraus. Sie war vorn geschlitzt, wie bei einer Schlange. Fasziniert schaute ich zu, wie er nur die rechte Spitze hob und sich geschickt die Zigarette in den Spalt schob.
    »Irre!!!«
    Das war meine erste Begegnung mit einer Schlangenzunge.
    »Willst du auch so einen Eingriff machen lassen?«
    Ich nickte unwillkürlich.
    Überwiegend seien es durchgeknallte Typen, die sich solche split-tongues verpaßten. Sie nannten das dann body modification. Ausführlich schilderte er mir die Prozedur dieser körperlichen Umwandlung:
    Zuerst wird die Zunge gepierct. Das Loch wird dann immer mehr geweitet, bis es ganz ausgeleiert ist. Schließlich wird die verbliebene Spitze mit Zahnseide oder einer Angelschnur umwickelt und mit einem Skalpell oder einer Rasierklinge durchtrennt. Dann ist die Schlangenzunge perfekt. Die meisten würden so verfahren, aber es gäbe auch welche, die aufs Piercen ganz verzichteten und gleich zum Skalpell griffen.
    »Auweia, ist das nicht riskant? Es heißt doch, man verblutet, wenn man sich die Zunge abbeißt, oder?« fragte ich.
    Der Schlangenmann winkte cool ab: Nee! Das Blut werde mit einem Brenneisen gestillt. Der Griff zum Skalpell ginge zwar fixer, er aber bevorzuge die Piercingmethode. Die dauere zwar länger, aber dafür würde der Schlitz sauberer werden.
    Bei der Vorstellung, ein heißes Eisen an die blutverschmierte Zunge zu pressen, standen mir die Haare zu Berge. Ich selbst trug derzeit am rechten Ohr zwei 0g-Ringe und am linken von unten aufwärts eine ganze Reihe von 0g, 2g und 4g. Die Größe solcher Piercings wird in Gauge – Abkürzung: g – angegeben. Je niedriger die Zahl, desto größer das Loch. Man beginnt üblicherweise bei 16 bis 14g, was in etwa 1,5 Millimeter entspricht. Nach 0g gibt es noch 00g, ungefähr 9,5 Millimeter. Alles, was dann über einen Zentimeter hinausgeht, wird in Brüchen angegeben. Aber ehrlich gesagt, wenn man 00g überschreitet, sieht man aus wie ein Stammesangehöriger, und dann spielt es keine Rolle mehr, ob das cool wirkt oder nicht. Wenn ich daran denke, wie schmerzvoll es war, die Dinger in meine Ohrläppchen zu kriegen, wie muß das erst weh tun, wenn ich mir die Zunge durchbohre. Nicht auszumalen! Ursprünglich hatte ich immer nur 16er-Ringe getragen, bis ich eines Nachts in einem Club die zwei Jahre ältere Eri kennenlernte. Von da an wollte ich auch solche 00-g-Ohrringe haben wie sie, und ich begann meine Löcher nach und nach zu weiten.
    »Wow! Sieht ja irre aus!« beneidete ich sie um ihre Piercings. Daraufhin schenkte sie mir ein Dutzend ihrer abgelegten Ringe – eine Palette von 16 bis 0g – und erklärte, wenn man da angelangt sei, wären die dünneren nicht mehr zu gebrauchen. Das Vergrößern von 16g auf 6g stellte kein Problem dar, aber der Übergang von 4g auf 2g und dann von 2g auf 0g war Dehnen im wahrsten Sinne des Wortes. Blut sickerte aus der Wunde, und meine Ohrläppchen waren rotgeschwollen. Der pochende Schmerz hörte erst nach ein paar Tagen auf. Es dauerte insgesamt drei Monate, bis ich bei 0g angelangt war. Dabei befolgte ich Eris Devise und verzichtete auf irgendwelche Hilfsmittel zum Weiten.
    Ich war gerade im Begriff, meine Löcher auf 00g zu vergrößern, als ich den Schlangenmann traf. Ich war ganz versessen aufs Dehnen und lauschte verzückt seiner Schilderung über das Zungenspalten. Es bereitete ihm sichtlich Vergnügen, sich lang und breit darüber auszulassen.
    Einige Tage später ging ich mit Ama, so hieß der Typ, zum Desire. Der Independent-Laden für Punks befand sich abseits des Geschäfts- und Einkaufsviertels im Keller einer Seitenstraße. Das erste, was mir beim Eintreten ins Auge fiel, war die Großaufnahme einer Vagina mit einer gepiercten Klitorisvorhaut. An den Wänden hingen weitere Fotos von gepiercten Hoden sowie Tätowierungen. Hinten im Laden gab es ganz normalen Körperschmuck und andere Accessoires, aber auch Peitschen und Dildos. Nach meinem Empfinden war es ein Shop für Perverse. Als Ama durch den Raum rief, schoß ein Kopf hinter der Theke hervor. Es war ein kahlgeschorener Freak, auf dessen glattem Schädel sich ein tätowierter Drache wand. »Ah, Ama! … Lange nicht gesehen.« Der Punk war schon etwas älter,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher