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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah
Autoren: Jonathan Safran Foer
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wie man uns anguckt. Sie wissen vielleicht nicht, dass wir alles verloren haben, aber sie wissen, dass uns etwas abhanden gekommen ist.« Sie war der Baum und auch der Fluss, dessen Wasser vom Baum fort floss, »Es gibt Schlimmeres«, sagte sie, »Schlimmeres, als wie wir zu sein. Immerhin sind wir am Leben, denk daran«, ich merkte, dass sie diese letzten Worte gern zurückbekommen hätte, aber die Strömung war zu stark, »Und man darf nicht vergessen, dass herrliches Wetter ist«, ich rührte im Kaffee. »Aber wie ich höre, soll es heute Abend schlechter werden. Das hat man jedenfalls im Radio gesagt«, ich zuckte mit den Schultern, ich wusste nicht genau, was sie mit ›schlechter‹ meinte.»Eigentlich wollte ich bei A&P Thunfisch kaufen. Heute Morgen hatte ich ein paar Gutscheine in der Post. Man kann fünf Dosen zum Preis von drei bekommen. Ein echtes Schnäppchen! Im Grunde mag ich Thunfisch gar nicht. Ehrlich gesagt, bekomme ich davon Bauchschmerzen. Aber der Preis ist unschlagbar«, sie wollte mich zum Lachen bringen, aber ich zuckte nur mit den Schultern und rührte im Kaffee, »Aber ich bin unschlüssig«, sagte sie. »Das Wetter ist herrlich, und im Radio hat man gesagt, dass es heute Abend schlechter wird, also sollte ich stattdessen lieber in den Park gehen, obwohl ich leicht einen Sonnenbrand kriege. Und außerdem werde ich den Thunfisch heute Abend bestimmt nicht mehr essen. Wahrscheinlich nie, um ganz ehrlich zu sein. Ich kriege davon Bauchschmerzen, ehrlich gesagt. Das hat also überhaupt keine Eile. Aber das Wetter, das wird nicht bleiben, wie es ist. Jedenfalls ist es noch nie geblieben, wie es war. Du solltest vielleicht wissen, dass mir mein Arzt geraten hat, öfter vor die Tür zu gehen. Meine Augen sind schlecht, und er meint, dass ich viel zu selten vor die Tür gehe, er meint, dass es helfen könnte, wenn ich ein bisschen öfter vor die Tür ginge, wenn ich nur ein bisschen weniger Angst hätte …« Sie streckte eine Hand aus, und da ich nicht wusste, wie ich sie ergreifen sollte, brach ich ihr mit meinem Schweigen die Finger, sie sagte: »Du willst nicht mit mir reden, oder?« Ich holte mein Tagebuch aus dem Beutel und suchte nach der nächsten leeren Seite, es war die vorletzte.»Ich spreche nicht«, schrieb ich, »tut mir Leid.« Sie schaute mich von der Seite an und dann wieder ins Buch, sie legte sich die Hände vor die Augen und weinte, Tränen sickerten zwischen ihren Fingern durch und sammelten sich in kleinen Netzen, sie weinte und weinte und weinte, Servietten waren nicht in Reichweite, also riss ich die Seite aus dem Buch – »Ich spreche nicht. Tut mir Leid.« – und trocknete ihr damit die Wangen, meine Erklärung und meine Entschuldigung liefen ihr wie Maskara übers Gesicht, sie nahm mir den Stift weg und schrieb auf die nächste Seite meines Tagesbuchs, auf die letzte:

Bitte heirate mic h

Ich blätterte zurück und zeigte auf: »Ha, ha, ha!« Sie blätterte vor und zeigte auf: »Bitte heirate mich.« Ich blätterte zurück und zeigte auf: »Tut mir Leid, aber ich habe es nicht kleiner.« Sie blätterte vor und zeigte auf: »Bitte heirate mich.« Ich blät terte zurück und zeigte auf: »Weiß nicht genau, auf jeden Fall schon ziemlich spät.« Sie blätterte vor und zeigte auf: »Bitte heirate mich«, und diesmal drückte sie den Finger auf »Bitte«, als wollte sie die Seite festhalten oder das Gespräch beenden oder durch das Wort zu dem vorstoßen, was sie wirklich meinte. Ich dachte über das Leben nach, über mein Leben, die Peinlichkeiten, die kleinen Zufälle, die Schatten von Weckern auf Nachttischen. Ich dachte über meine kleinen Siege nach und all das, was vor meinen Augen zerstört worden war, ich war auf dem Bett meiner Eltern in Nerzmänteln versunken, während sie unten Gäste bewirteten, ich hatte den einzigen Menschen verloren, mit dem ich mein ganzes Leben hätte ver bringen können, ich hatte tausend Tonnen Marmor zurückge lassen, ich hätte Skulpturen herausmeißeln können, ich hätte mich aus dem Marmor meiner selbst herausmeißeln können. Ich hatte Freude erfahren, wenn auch bei weitem nicht genug, war es je genug? Das Ende des Leidens ist keine Rechtferti gung für das Leiden, und also hat das Leiden nie ein Ende, was bin ich doch verkorkst, dachte ich, was bin ich doch für ein Idiot, wie dumm und engstirnig, wie wertlos, wie lächerlich und zerquält, wie hilflos. Keines meiner Haustiere weiß, wie es heißt, was für ein Mensch bin ich denn
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