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Der Oligarch

Der Oligarch

Titel: Der Oligarch
Autoren: Daniel Silva
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W LADIMIRSKAJA O BLAST , R USSLAND
    Pjotr Luschkow war im Begriff, ermordet zu werden, und dafür war er dankbar.
    Es war Ende Oktober, aber der Herbst war längst nur mehr eine Erinnerung. Er war kurz und unansehnlich gewesen – eine alte Babuschka, die hastig einen fadenscheinigen Kittel abstreift. Und nun dies: bleigrauer Himmel, arktische Kälte, Schneeverwehungen. Der Startschuss für Russlands endlosen Winter.
    Pjotr Luschkow, ohne Hemd, barfuß, die Hände auf dem Rücken gefesselt, nahm die Kälte kaum wahr. Tatsächlich hätte er in diesem Augenblick Mühe gehabt, sich an seinen Namen zu erinnern. Er glaubte, von zwei Männern durch ein Birkenwäldchen geführt zu werden, aber er wusste es nicht sicher. Dass sie in einem Wald waren, war nur logisch. Dies war der Ort, den Russen für ihre blutige Arbeit bevorzugten. Kurapaty, Bykiwnia, Katyn, Butowo … immer in den Wäldern. Luschkow war im Begriff, einer großen russischen Tradition teilhaftig zu werden. Luschkow stand davor, unter Bäumen zu sterben.
    Im Zusammenhang mit Morden gab es einen weiteren russischen Brauch: das absichtliche Zufügen von Schmerzen. Pjotr Luschkow war dazu gezwungen worden, Berge von Schmerzen zu erklimmen. Sie hatten ihm die Finger und beide Daumen gebrochen. Sie hatten ihm die Arme und sämtliche Rippen gebrochen. Sie hatten ihm Nase und Unterkiefer gebrochen. Sie hatten sogar noch auf ihn eingeschlagen, als er schon bewusstlos gewesen war. Sie hatten ihn geschlagen, weil es ihnen befohlen worden war. Sie hatten ihn geschlagen, weil sie Russen waren. Vorübergehend aufgehört hatten sie nur, wenn sie Wodka tranken. Als es keinen Wodka mehr gab, hatten sie noch erbarmungsloser zugeschlagen.
    Jetzt befand er sich auf der Schlussetappe seiner Lebensreise, dem langen Weg zu einem unbezeichneten Grab. Die Russen hatten einen Ausdruck dafür: wyschaja mera, die höchste Form der Bestrafung. Im Allgemeinen war sie für Verräter reserviert, aber Pjotr Luschkow hatte niemanden verraten. Er hatte sich von der Frau seines Herrn übers Ohr hauen lassen, und sein Herr hatte deswegen alles verloren. Dafür musste jemand büßen. Letzten Endes würden alle dafür büßen.
    Er konnte seinen Herrn jetzt sehen, wie er allein zwischen den zündholzdürren Stämmen der Birken stand. Schwarzer Ledermantel, silberne Mähne, ein Schädel wie der Turm eines Panzers. Er blickte auf die großkalibrige Pistole in seiner Rechten hinab. Das musste Luschkow anerkennen: Es gab nicht viele Oligarchen, die den Schneid hatten, ihre Morde selbst zu verüben. Aber es gab natürlich auch nicht viele Oligarchen wie seinen Herrn.
    Das Grab war bereits ausgehoben. Luschkows Herr inspizierte es sorgfältig, als wolle er sich davon überzeugen, dass es wirklich groß genug war, um eine Leiche aufzunehmen. Als Luschkow sich hinknien musste, konnte er das unverwechselbare Rasierwasser riechen. Sandelholz und Rauch. Der Geruch von Macht. Der Gestank des Teufels.
    Der Teufel schlug ihn ein letztes Mal ins Gesicht. Luschkow spürte diesen Schlag nicht einmal mehr. Dann drückte der Teufel ihm die Mündung der Pistole ins Genick und wünschte ihm einen angenehmen Abend. Luschkow sah das rosa Aufblitzen seines eigenen Bluts. Dann nur mehr Dunkel. Er war endlich tot. Und dafür war er dankbar.

2 L ONDON , J ANUAR
    Die Ermordung Pjotr Luschkows blieb weitgehend unbemerkt.
    Niemand trauerte um ihn; keine Frauen trugen seinetwegen Schwarz. Keine russischen Polizeibeamten ermittelten wegen seines Todes, und keine russische Zeitung machte sich die Mühe, seinen Tod zu melden. Nicht in Moskau. Nicht in St. Petersburg. Und erst recht nicht in der russischen Großstadt, die unter dem Namen London bekannt war. Hätte die Nachricht von Luschkows Tod die Bristol Mews erreicht, wo der russische Überläufer und Dissident Oberst Grigorij Bulganow wohnte, hätten ihn Gewissensbisse geplagt. Hätte Grigorij den armen Pjotr nämlich nicht in Iwan Charkows privaten Tresor gesperrt, hätte der Leibwächter noch leben können.
    In Führungskreisen des Thames House und von Vauxhall Cross, den an der Themse liegenden Zentralen von MI5 und MI6, galt Grigorij Bulganow seit jeher als charismatisch und stand im Mittelpunkt vieler Diskussionen. Die Meinungen waren geteilt, aber das war meistens der Fall, wenn die beiden Dienste zum selben Thema Position beziehen mussten. Er sei bestenfalls ein Mann mit vielen Facetten, murmelten seine Verleumder. Ein Spötter aus der Führungsetage des Thames House
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