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Evgenia Ivanovna

Evgenia Ivanovna

Titel: Evgenia Ivanovna
Autoren: Leonid Leonow
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unversehens wurde er quälend unruhig bei dem Gedanken, was denn seine Seele erfüllen sollte, wenn nicht dieser letzte Schmerz.
    »Ja, der traditionelle Herbstjahrmarkt fällt hier auf den Tag eines Kirchenfestes, auf den Tag der sogenannten Kreuzeserhöhung«, erwiderte Stratonow, schon wieder obenauf, ganz der redegewandte Fremdenführer, der es mit zerstreuten, bisweilen etwas schwerhörigen Touristen zu tun hat. »Im Sinne der verstärkten antireligiösen Kampagnen – durchaus nicht nur vom Katheder herab betrieben – wird religiöser Fanatismus erfolgreich in die Bahnen eines landesüblichen Bauernfestes gelenkt. Es freut mich sehr, daß sie wie auch Mr. Pickering den Reiz dieses etwas exotischen Treibens durchaus empfunden haben.« Zum Schluß seines kleinen Vortrags nannte er jene schlichten Dinge, die auf dem Alawerdyer Jahrmarkt begehrt waren.
    Unter dem Vorwand, Reisig fürs Feuer zu sammeln, blieb er zurück. Sonderbar, daß der Engländer gar nicht zu bemerken schien, als seine Frau auftauchte. In ihrer Abwesenheit hatten die Telianer dem Inselgast eine schwarze Filzkappe aufgestülpt, zum Zeichen seiner Ernennung zum Kachetier honoris causa. Den kulinarischen Genüssen folgte das Schlemmermahl des Geistes. Evgenia Ivanovna erhaschte eben noch das Ende dieses Disputs zu wesentlichen Tagesfragen. Mr. Pickering hatte seinen neuen Freunden gern zugestanden, daß es sich in einer Welt mit so brisanter Zivilisation immer gefährlicher lebe und der Fortschritt im Zeichen eines sozialen Humanismus zu stehen habe, beharrte andrerseits jedoch darauf, die Größe einer Idee am Wohlstand des Volkes zu messen und nicht an der Zahl der gebrachten Opfer. Das Gespräch wurde zwar rhetorisch nicht eben sehr glänzend, dafür aber stellenweis ungemein temperamentvoll geführt, jedenfalls ohne Stockungen, wie sonst, wenn sich Gesprächspartner einer dritten, weniger geläufigen Sprache bedienen. Den Mangel an Vokabeln glichen energische Gesten aus, in aller Welt verständliche Fingerfiguren oder ideographisches Hindeuten auf die Dinge ringsumher. Sehr zustatten schien Mr. Pickering zu kommen, daß er im Entziffern von Hieroglyphentexten einige Übung besaß. Im übrigen hatten beide Seiten schon jenen seligen Grad wechselseitigen Einvernehmens erreicht, wo ein guter Tropfen jeden Dolmetscher überflüssig macht.
    Möglicherweise war darin auch der Grund zu suchen, warum Mr. Pickering sich gar nicht rührte, als seine Frau neben ihm auf dem Teppich Platz nahm. Aber wenn er auch mit der Miene höchster Anteilnahme den Urhebern dieses Gastmahls weiterhin zunickte, richtete sich all seine Aufmerksamkeit gleichwohl auf jene geheimen Anzeichen, welche Eifersucht mit untrüglicher niederträchtiger Sicherheit entdeckt, etwa auf die eingefallenen Wangen seiner Frau, den Staub an ihrem Rock oder das unerklärliche Verschwinden des Guide.
    »Herr Stratonow wollte noch Reisig suchen fürs Abschiedfeuer«, meinte Evgenia Ivanovna auf englisch, auf seinen einzigen flüchtigen Blick hin. »Wir sind fast die ganze Gegend hier abgelaufen, und auf einmal wollte ich mächtig gern nach Haus, nur nach Haus, sonst nirgendwohin. Aber ich weiß ja gar nicht, Doc, liegt unser Leeds sehr weit von London?«
    »Nein, viereinhalb Stunden mit der Bahn«, sagte der Engländer, ohne zu bemerken, daß ihm die kachetische Filzkappe aufs Ohr gerutscht war, und starrte stumpf vor sich hin.
    »Ich möchte London schon so lange sehen, schließlich muß ich ja die Hauptstadt unsres Landes kennen. Wir fahren gleich hin, wenn wir eingerichtet sind, ja? Liegt unser Haus weit von der Universität?«
    »Nur zwanzig Minuten zu Fuß … in der Cottage Road …«
    »Gibt es einen Park in der Nähe? So eine kleine Anlage in der Nähe wäre bald ganz hübsch.«
    »Sieben Minuten von uns gibt es die Hollies.«
    »Wenn wir da sind, gehen wir abends wieder spazieren … bestimmt. Sind die Bäume dort groß oder nicht? Große Bäume haben so etwas beruhigend Kühles. Und eine Kirche ist auch da?«
    »Ja, gleich nebenan, St. Chad's.«
    Da lehnte sie den Nacken müde an den Maulbeerstamm und schloß erschöpft die Augen. Sie versuchte, sich die Evgenia Ivanovna in fünf Jahren vorzustellen, aber sonderbar, das wollte ihr nicht gelingen. Sie tastete neben sich und drückte die Hand ihres Mannes, die war kalt, wie gelähmt, und erwiderte den Druck nicht.
    »Ich glaube, Liebling, ich werde keine schlechte Hausfrau sein. Da meine Mutter tot ist, werde ich deine doppelt mögen.
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