Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Evgenia Ivanovna

Evgenia Ivanovna

Titel: Evgenia Ivanovna
Autoren: Leonid Leonow
Vom Netzwerk:
Konstantinopel noch nicht vergessen: ihr Schmerz überwog ihren Haß.
    Da Stratonow eigne Waffen nicht besaß, mußte er sich mit fremden schlagen und nutzte dabei die Abwesenheit seiner Arbeitgeber.
    »Ich antworte Ihnen gern, nur bitte ich um ein wenig Geduld.«
    »Oh, Sie ahnen gar nicht, wie geduldig ich bin, Herr Stratonow.«
    Eine Weile verging, Stratonow hob ein Stöckchen vom Boden auf und betrachtete es.
    »Schön … aber erlauben Sie, daß ich russisch spreche. Darüber redet sich schwer in fremder Sprache«, begann er erregt. »Die großen Geister Rußlands haben unserm Land seit langem eine besondere, hohe, von europäischer Ichsucht freie Mission vorausgesagt … Ganze Generationen redeten sich bei uns darüber die Köpfe heiß, und grüne Jungen im Ausland rissen ihre Witze. Natürlich war die Feixerei etwas riskant … es ging ja um das altehrwürdige und vor allem universell menschliche Trachten nach Frieden, Güte und Wahrheit, will sagen, um die Konstituierung höchster Menschlichkeit auf Erden … nach altem Brauch nennen wir das den Traum vom goldenen oder gerechten Zeitalter. Obwohl vielfach widersprüchlich ausgelegt, verhöhnt und verraten im Lauf der Jahrhunderte, ist er keineswegs verblaßt und schwelt bis heute fort in den Herzen der … na, sagen wir der Armen«, er stockte bei dem Wort, »… und speit auch gelegentlich Flammen, wie der Westen sich unlängst überzeugen konnte. Zuerst stand es im guten Willen und väterlichen Gewissen der Regenten, der Geistlichkeit und der höheren Schichten, diesem Urdrang zu entsprechen, doch dann versuchten die enttäuschten, hingehaltenen unteren Schichten selbst, die Sache über den toten Punkt hinwegzubringen. Ich meine, alle bisherigen Revolutionen waren nur eine Art Gefechtsaufklärung. Die eigentliche Schlacht beginnt hier und morgen. Sie werden gleich sehen, was uns heute in diesem Lande vereint, und warum.«
    Mit glänzender juristischer Beredsamkeit, wenn auch etwas auf Primanerniveau, zeichnete Stratonow ihr den Stammbaum nämlichen Traums. Der Kürze halber ließ er das graue Altertum weg und ging gleich zu Erschütterungen des westeuropäischen Mittelalters über, nannte namentlich die Bauernkriege, verknüpfte die Reformation mit der sozialen Krise des Christentums, in der »das Kirchenkomplott der … sagen wir, der Reichen gegen die geringeren und bedürftigen Brüder in Christo sinnfällig wurde«, leitete von hier den neuzeitlichen Utopismus her, von ihm die »intellektuelle Rebellion gegen das düstere Reich Gottes« genannt, wobei er, kurz mit seinem Latein brillierend und so seine hochtrabende Unredlichkeit etwas verbrämend, Augustinus' Civitas Dei der Civitate Solis des Campanella entgegenstellte, rundete ab, was sich nicht zusammenfügte, und trug auf diese Weise den Prometheusfunken über die Enzyklopädisten und den frühen Sozialismus bis in den Titel der Leninschen Zeitung.* [ *Gemeint ist die »Iskra« (Der Funke). ]
    Abschließend meinte Stratonow, vorm letzten Gefecht würden der Freiheitsstafette in aller Welt enorme Kräfte zulaufen.
    Evgenia Ivanovna lächelte ihm sanft zu.
    »Wenn Sie sich damit meinen, kann ich der Welt nur gratulieren. Ganz Europa baut darauf, daß Sie, Stratonow, es nicht aufsitzen lassen.«
    Zehn Schritt lang pfiff nur Stratonows Rute durch die Luft und köpfte die Gräser am Wegrand. »Hier, in Kachetien, brät man einen ausgezeichneten Schaschlyk. Es freut mich, daß der Ihre Stimmung gehoben hat«, sagte er dann. »Nur sind Sie im Irrtum, Mrs. Pickering. Ich meinte nicht mich, sondern das riesige Rußland, das sich die prophezeite Bürde auf die Schultern geladen hat. Im Grunde ist es immer der gleiche Weg zu den Sternen, doch führt er nicht mehr über den Himmel, man schneidet ab und will in irdischen Eilmärschen dorthin gelangen, über Stock und Stein. Zugegeben, das wird Opfer kosten, aber solche Zeitalter, mit ihrem Schwung, machen die Zeitgenossen kataleptisch unerschütterlich und für immer immun gegen Leiden.«
    »Hoffen Sie, wieder heil davonzukommen?« Sie lächelte böse.
    »Lachen ist natürlich gesund, aber mir schwant, Europa wird noch manchmal das Lachen vergehen, wenn diese Leute erst richtig aufräumen.«
    »Oh, Sie machen mir angst mit Ihren Drohungen. Führen Sie wieder was Teuflisches im Schilde?«
    Die Rute zerbrach in Stratonows Hand.
    »Ich fürchte Mrs. Pickering, hier ist es mit englischem Humor nicht getan. Nicht um Drohungen geht es, sondern darum, was das russische
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher