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Evgenia Ivanovna

Evgenia Ivanovna

Titel: Evgenia Ivanovna
Autoren: Leonid Leonow
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den Groll, spül weg das Ungemach! Dennoch seien gerade hier, ungeachtet strenger Strafandrohungen, Fälle von Blutrache nichts Seltenes. An gutem Gedächtnis für angetanes Leid würden ja auch nicht nur geborene Talbewohner kranken, auch durchreisende Fremde. Selbst Frauen, meinte Stratonow, blieben hier scheußlich unempfindlich, wenn so ein armer Sünder seelische Foltern ausstehe. Auch mutmaßte der Guide, im hiesigen Wasser müßte sich wohl eine Art toxischer Mikromaterie befinden, von der längst vernarbte Wunden wieder eiterten.
    »Schon das zweitemal an einem Tag sprechen sie von Ihrem Pech, bester Stratonow.« Evgenia Ivanovna lächelte in belustigter geduldiger Verwunderung. »Hat man Ihnen tatsächlich so übel mitgespielt, daß Sie von fremden Leuten immerzu bedauert werden wollen?«
    »Es gibt so urrussische Leiden, die man weder vergessen noch kurieren kann«, erwiderte der kaum hörbar.
    »Und Sie sind sicher, alle Mittel dagegen versucht zu haben?« Sie lächelte noch eisiger. Langsam ging sie weiter und ließ den Guide stehen, der sich von seiner Verblüffung erst erholen mußte.
    Der geschotterte Weg um den Jahrmarkt herum bog auf einmal auf freies Gelände ein, mit Bäumen bestanden, deren Gattung im Frühdämmer noch nicht zu erkennen war. An der Wegbiege, vor dem letzten Ausschank, holte der Guide Evgenia Ivanovna glücklich ein. In Anbetracht der Dinge, die da noch kommen mochten, bat er um einen Moment Geduld. »In allen zivilisierten Ländern gewährt man dem Verurteilten vor der Exekution einen Schnaps. Ich hätte von meinem Recht gern Gebrauch gemacht«, witzelte er böse. »Keine Sorge, nur einen. Ich bin im Dienst.«
    Im Laufen holte er ein paar geknüllte Geldscheine aus der Tasche. Auf sein Klopfen schaute unter dem angehobenen Fensterladen ein übernächtiges, apokalyptisches Wesen hervor, die Persianertiara schief aufs Ohr gezogen. Stratonow kippte das Glas, sandte einen Blick gen Himmel, warf noch einige Münzen auf den Klapptisch und bestellte etwas in einem kleineren Glas. Als der Budiker ihm eine Pastete mit den Fingerspitzen, an der Weste peinlich sauber gewischt, zureichte, winkte Stratonow ab. Äußerlich abgekühlt, doch fuchsteufelswild, verbissen, kam er zurück.
    Zunächst fragte er sie, ob es nicht Zeit sei umzukehren; es sei kalt und der Engländer bange wohl um seine spurlos verschwundene Frau.
    »Warum sollte er! Er hat mich ja nicht allein gehen lassen … Sie sind doch bei mir.«
    »Und wenn er ahnt, mit wem er seine Frau gehn ließ?« trumpfte Stratonow keck auf.
    »Er weiß ohnehin alles von uns beiden. Große Männer erkennt man unter anderm daran, daß man sie schon nach wenigen Worten ewig lange zu kennen glaubt. Jedenfalls wußte Mr. Pickering schon alles, bevor er Ihnen in Tiflis begegnete.«
    »Ehre seinem Scharfsinn«, warf Stratonow dreist hin; es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte seinem Nachfolger eine Lobrede gehalten für logisches Denken. »Ich glaube, ich habe vor Kummer einen zuviel genommen. Aber verdammen Sie mich nicht, bevor Sie mich angehört haben.«
    »Lassen Sie nur, Stratonow, Sie quälen sich ganz umsonst«, sagte Evgenia Ivanovna in ehrlicher Überzeugung. »Natürlich war es eine Überraschung für mich, Ihnen hierzulande wiederzubegegnen. In meiner Naivität hielt ich Sie ja für tot.«
    Er schnitt eine Grimasse, wie auf der Folterbank. »Dann verstehe ich die Enttäuschung der Lady, die es zu den Gräbern ihrer Lieben zog. Was für ein Anblick für die Ärmste: Der teure Leichnam sitzt sozusagen auf seinem Grabstein und genehmigt sich einen.« Da quoll etwas in ihm hoch und klirrte in seiner Stimme: »Wer sagt Ihnen denn, daß ich nicht jetzt vor Ihnen zum hunderttausendunderstenmal sterbe?«
    »Toll, wie machen Sie das bloß so oft?« Sie lachte kühl.
    »Ja. Ich starb vor Gram und Schmerz, als die Armee geschlagen wurde, vor Ekel in der Sauluke auf dem Schiff, vor Hunger mit Ihnen und vor Schande, daß ich noch lebe. Ich starb stündlich, wenn ich mit leeren Händen heimkam und dem Blick verweinter Augen begegnete, wenn mir das Sinnlose meiner Existenz wieder und wieder aufging … Gestehen Sie nur, ging es Ihnen nicht besser ohne mich?«
    »Insofern haben Sie recht, lieber Stratonow, als eine nicht eben häßliche Frau im Ausland allein leichter durchkommt«, stimmte sie halblaut zu.
     
    Das Blut schoß ihr in die Wangen. Sie dachte daran, wie sie einmal nachts, irgendwo in Kleinasien, mit ihrem Mann durch ein Elendsviertel
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