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Evgenia Ivanovna

Evgenia Ivanovna

Titel: Evgenia Ivanovna
Autoren: Leonid Leonow
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da sie in sich ja schon die Verwandten sahen, und schauderten nur bei der Erwähnung der todgeweihten Tyrannen, von denen sie persönlich allein den alten Lateinlehrer kannten, den Schrecken der Faulpelze, und den Kaufmann an der Ecke, der bis zur Pensionsauszahlung Waren auf Borg gab. Fest stand, sobald der Krieg mit Gottes Hilfe gänzlich verloren sein würde, sollte Hochzeit gefeiert werden. Aber zunächst schwand der Zucker aus den Geschäften, und dann haperte es auch mit dem übrigen. Die beiden Alten entschieden, die Trauung wie das Leben überhaupt bis ans Ende der Wirren zu verschieben.
    Das Jahr darauf, im Herbst, kroch Leutnant Stratonow, heimlich zurückgekehrt, in Heuschobern am Fluß oder im Taubenschlag seiner künftigen Schwiegermutter unter. Den langen Winter über hörte er nachts bei offener Fensterklappe Schießereien. Zum Frühjahr lagen die hiesigen Tyrannen zum Teil unter der Erde … Auf ihnen, die da rasch eingebuddelt waren, brüteten denn auch die Eintagsfliegen jener Jahre – Atamane des Reußenlandes, weltregierende Väterchen mit Mauser, Kommandanten des Erdballs und sonstige ungezügelte Heißsporne. Mit gezücktem Degen fegten sie durch die Steppe, zu Pferde oder auf Wagen, und furchten die laue kontinentale Stille; sie jagten sich selber zuschanden und versanken in Staubwolken zu seiten der alten Heerstraßen. In der Stadt tauchten schneidige Obristen auf, Wespentaille, weiße Umhänge überm Tscherkessenrock, die das erwachte Rußland befrieden wollten. Denikin, auf dem Durchmarsch, rief die einheimischen Aare von der Kirchentreppe herab zu soldatischen Taten auf, und diese, kahlgeschoren und nach Karbol riechend, schrien heiser hurra. Es gab Maskenbälle zugunsten der Kriegswaisen, aufsehenerregende Exekutionen, Becherschwenken mit Schießerei, Paraden, nächtelanges Kartenspielen, bodenlose russische Melancholie. Bald welkten die Sumpfblüten, verwehten im Winde: von Norden her walzte prasselnd die rote Feuerwalze durch die Steppe.
    Eines Abends stürzte der Oberleutnant, ohne Achselstücke, zu seiner Braut herein, um ihr Lebewohl zu sagen. Nichts an diesem pulvergeschwärzten flatternden Alten erinnerte mehr an den Jurastudiosus im sechsten Semester. »Shenja, meine Göttin, meine Ophelia, mein Herz, dein wundervolles Bild wird mich durch die Wüste des … wie soll ich sagen?« Er stockte, schnalzte verstohlen mit den Fingern und schluchzte los wie ein Schuljunge … Draußen wurde geschossen, die Garnison in der Kaserne wehrte sich. Am Abend zuvor war eine rote Eskadron singend und johlend in die Vorstadt eingedrungen. Die Zeit drängte; schon schifften sich die ersten Einheiten der Weißen Armee irgendwo an der Küste auf einem ausländischen Frachter ein. Das Mädchen erbot sich, das Schicksal des Geliebten zu teilen. Der sträubte sich weidlich, obschon er wußte, was einer Offiziersbraut bevorstand. Die Mütter erteilten ihren Segen für die Reise und drückten ihnen je ein Köfferchen in die Hand mit dem Nachlaß zu Lebzeiten. In einer Mietskutsche, erbeutet nach dem Faustrecht des Rückzugs, floh das junge Paar. Die Brautnacht feierte es in der Steppe, unter freiem Himmel. Durch die Finsternis flockte der erste Schnee, das eingeschirrte Pferd stand brav, ein Feld roch faulig nach Melonenkraut. Lautlos durchtastete eine Hand die Steppe nach den Spuren der Flüchtigen, und die Todesangst vervielfachte Stratonows Begierde. Shenjas Knie schauderten … Während ihr Mann vorsorglich den Hafersack verstaute – vor ihnen lag ja eine der denkbar längsten Reisen ihres Lebens –, starrte sie zum Horizont zurück, der rot glühte inmitten der Finsternis. Ach, Mutter, Herrgott, lohnt es sich, dazu geboren zu sein? Eiskalt rann es ihr den Rücken hinab, als sie an die Ereignisse der folgenden Zeit dachte.
     
    Ein halbes Jahr später, in Konstantinopel, hatte Stratonow sie ohne einen Groschen sitzenlassen. Nach einer ziemlich mageren Zeit war er eines Tages auf Arbeitssuche gegangen und nicht zurückgekommen. Ihr erster Gedanke war, er sei unter die Straßenbahn geraten. Halb irre strich sie drei Tage lang durch die Leichenhäuser der fremden Stadt. Und sie dummes Ding hatte gemeint, der Tod würde sie zusammen hinraffen, wenn ihre Körper der Lust müde seien, hatte gemeint, auch dann hätten sich ihre Seelen noch nicht satt geschaut aneinander. Drei Tage darauf, als der Hunger ihren Jammer ein bißchen dämpfte, mitten in der glühendsten Stunde, spürte sie die Eiseskälte ihrer
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