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Evgenia Ivanovna

Evgenia Ivanovna

Titel: Evgenia Ivanovna
Autoren: Leonid Leonow
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sie die Fülle an Wundern ein wenig gemindert, die von überallher auf sie einstürmten. Auf einmal schoß ein gellender Dampfstrahl hoch, und während dieser schrille Abschiedsruf die Welt durchzitterte, betete Shenja mit Mutters Worten, der liebe Gott möge ein Einsehen haben und diese barmherzigste seiner Kapricen nicht gleich zu Anbeginn abblasen.
    Alle Geräusche der Welt gingen im Heckwasser unter, dann waren auch die Vögel verschwunden überm spiegelglatten Perlgrau. Marseille zerfloß im Abenddunst, die Gärten und Würfel der Seevillen wichen dem Band der Küstenfeuer … Eigentlich hätte sie nun den andern Expeditionsteilnehmern vorgestellt werden können, Shenja wagte nicht, nach ihnen zu fragen, übrigens bekam sie sie auch ihr Lebtag nicht zu Gesicht. Vor lauter Grübeln war es grauenhaft wie im Traum, aber das Erwachen wäre noch grauenhafter gewesen. Schüchtern fragte sie den Reisegefährten, wann er nach England zurückzukehren gedächte. Anfang Oktober nehme er seine Vorlesungen an der Fakultät wieder auf. Sie fragte nicht, welche, um ihre Unkenntnis nicht zu zeigen und folglich, wie egal es ihr war, mit wem sie auf die weite ominöse Reise ging.
    »So weit ich auch herumgekommen bin, aber in Ihrem Land war ich noch nie«, fing sie tastend an. »Entschuldigen Sie, sind Sie ständig in London, oder sind Sie mehr auf Reisen? Wie ich hörte, gibt es in London bloß Qualm und Steine und keinen Funken Seele … Ist das wahr?«
    Fraglich ist, ob Mr. Pickering aller Welt eine solche Langmut bekundete oder ob er an diesem Tag nur so strahlender Laune war. Oh, Evgenia Ivanovna würde die britische Metropole gewiß mit andern Augen sehen, sobald er selber ihr die Stadt gezeigt habe. Er gab ihr einen Vorgeschmack davon und nannte ein paar der dort verpfändeten großen Brocken, auf denen die menschliche Kultur mit einer Kante ruhte.
    »Ach, wie gern würde ich in London sein … wenn es ginge«, sagte Shenja mit stockendem Herzen, doch nicht ohne Würde. »Natürlich, ich habe in alten Zeitschriften von London gelesen, auch mein verstorbener Vater erzählte manchmal davon …«
    »Er war in England? Hat es mit eignen Augen gesehen?«
    Shenja leckte sich die trockenen Lippen.
    »Na, nicht ganz. Sein Onkel mütterlicherseits war Matrose auf einem Schiff. Das ist lange her, es war noch vor meiner Zeit.« Da fiel ihr eine Lebensregel der Mutter ein: je harmloser ein Fußeisen aussieht, desto schärfer die Zinken – und sie sah mit Entsetzen, wie die Küste unaufhaltsam zurückglitt und in der Nacht versank. »Verzeihung, wohin fahren wir, sagten Sie, und zu welchem Zweck?«
    »Nach Mesopotamien, Inschriften auf alten Steinen lesen … Sehen Sie, wieder ist diese Sorge in Ihrer Stimme, Jenny, gefällt Ihnen Mesopotamien nicht?« »Nein, wieso denn … im Gegenteil.« Hoffnungsvoll sah sie auf, in den dunklen Himmel, von wo der starre Blick des Engländers auf sie niederfiel.
    Die Antwort beruhigte sie. Dieses Land war ihr ja nicht ganz unbekannt, zum Beispiel flossen da der Euphrat und der Tigris. Zudem wußte sie aus dem Religionsunterricht, daß sich daselbst eine Zeitlang das Paradies befunden hatte. Man mußte nur noch nachforschen dieser alten Steine wegen.
    »Ich sehe, Sie können es nicht erwarten, über mich Näheres zu erfahren.« Mr. Pickering lachte aufmunternd. »Fragen Sie nur zu! Ehrlich gesagt, daß Sie den beruflichen und familiären Dingen Ihres Chefs und seinen Steckenpferden so wenig Interesse zuwandten«, er stockte, »habe ich abwechselnd auf Taktgefühl, Klugheit, einen hohen Bildungsgrad, endlich auf ein schweres Schicksal zurückgeführt. Sie werden mir zugeben, nur ein guter Freund ist in der Lage, die Gleichgültigkeit eines Reisegefährten auf so vielerlei Weise zu entschuldigen. Nicht wahr? Ich will Ihnen des Rätsels Lösung erleichtern. Natürlich wissen Sie längst, ich bin Archäologe. Ich schreibe ziemlich dickleibige Bücher über das, was war und nicht mehr ist, und unterrichte außerdem den Nachwuchs, dem es obliegt, dieses Werk weiterzuführen, damit es keine verhängnisvollen Stockungen gibt. Die Vergangenheit lehrt die Gegenwart, ihre Miseren in Zukunft zu vermeiden – übrigens zumeist ohne sonderlichen Erfolg. Nichts Süßeres auf Erden, als einen Irrtum zu begehen! Sodann, einen Lehrstuhl habe ich nicht an der Londoner Universität, sondern in Leeds. Familie hat Ihr Reisegefährte keine, nur eine Mutter, eine sehr schöne Frau … von der Mutter habe ich nur das
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