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Das Weisse Kleid Des Todes

Das Weisse Kleid Des Todes

Titel: Das Weisse Kleid Des Todes
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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1
    E s war eine höllische Nacht, um ein Baby auszusetzen. Die Kälte biss Russ Van Alstyne in die Nase und zwang ihn, die Hände tief in die Manteltaschen zu stecken. Gott sei Dank hatte das Washington County Hospital einen Stellplatz für Polizeiautos, nur ein paar Meter von den Türen zur Notaufnahme. Ein kreisendes Rotlicht schreckte Russ aus seinen Gedanken auf, und er beobachtete, wie ein Krankenwagen im Rückwärtsgang wegfuhr. Der Fahrer lehnte aus dem Fenster und verrenkte sich den Hals, um zwischen den Betonpfosten hindurchzukommen.
    »Kurt! Hey! Irgendwas, das mich angeht?«
    Der Fahrer winkte Russ zu. »Hallo, Chief. Nein, nichts. Herzattacke. Hat sich stabilisiert und soll nach Glens Falls rüber. Schon von der Geschichte mit dem Baby gehört?«
    »Deshalb bin ich ja hier.«
    Kurt stieß bis fast ans Ende des Parkplatzes zurück. »Mein Gott, so was hier in Millers Kill ist kaum vorstellbar –« Der Rest seiner Bemerkung war nicht mehr zu hören, als er auf die Straße bog. Russ winkte ihm zu. Dann öffnete er die veraltete Doppeltür zur Notaufnahme und marschierte hinein.
    In Sekundenschnelle beschlug durch die feuchte Hitze im Vorraum seine Nickelbrille. Er nahm sie ab, putzte die Gläser mit dem Ende seines Schals und verfluchte dabei seine Kurzsichtigkeit, deretwegen er zu guter Letzt, mit achtundvierzig Jahren, klein beigegeben hatte und das verdammte Ding rund um die Uhr trug. Er hatte Bauchschmerzen, sein Knie machte ihm zu schaffen, und einen Moment wünschte er sich, er hätte diesen Job als Sicherheitsberater in Phoenix angenommen, wie seine Frau es wollte.
    »Hey! Chief!« Eine verschwommene braune Gestalt kam ihm entgegen. Russ setzte die Brille wieder auf, schob sich die Bügel hinter die Ohren – und sah die Gestalt scharf: Mark Durkee, einen seiner drei Beamten, die Nachtschicht hatten. Der Jüngere war wie immer sorgfältig gekleidet, sodass Russ seine eigene, nicht gerade vorbildliche Erscheinung bewusst wurde: zerknitterte Wollhose, in salzfleckige Jagdstiefel gestopft, und ein übergroßer Schal mit Schottenkaro, der farblich nicht gerade mit seinem braunen Dienstparka harmonierte. Hol’s der Teufel, wahrscheinlich war Mark noch zu jung, um am Hals zu frieren, selbst mit seinem fast kahl rasierten Hinterkopf.
    »Hey, Mark«, sagte Russ, »erzähl mir was Neues.«
    Der Beamte winkte seinen Chef durch den tristen grünen Gang zur Notaufnahme. Es roch nach Desinfektionsmittel und Leichen, mit einer Spur Kuhmist von dem letzten Bauern, der direkt aus dem Stall hierher gekommen war. »Mann, das ist ’ne Sache wie aus ’nem alten Bing-Crosby-Film, Chief. Das kleine Kerlchen wurde hübsch eingepackt vor der Türe von St. Alban’s gefunden. Der Doktor untersucht es gerade.«
    »Und, wie sieht’s aus?«
    »Gut, soweit ich das beurteilen kann. Der Kleine war echt warm eingewickelt, und der Doc meint, er hat wohl höchstens ’ne halbe Stunde in der Kälte draußen gelegen.« Russ’ Magen entkrampfte sich. Als MP in Deutschland hatte Russ mal einen Fall gehabt, wo ein Baby in eine Mülltonne gelegt worden war, und noch mal wollte er so etwas nicht sehen.
    Mark und er nickten der Krankenschwester zu, die zwischen dem Warteraum und dem blauen Vorhang Wache stand, hinter dem man einen ersten Blick auf die Patienten warf. »N’ Abend, Alta«, sagte Russ. »Wie gehen die Geschäfte?«
    Das mit müden Lamettabüscheln und dazu passendem Weihnachtsbaum geschmückte Wartezimmer war fast menschenleer; nur ein Jugendlicher lümmelte auf einem der niedrigen Sofas herum.
    »Schleppend«, antwortete die Stationsschwester, während sie einen Knopf drückte und sich summend die Tür zum Behandlungsbereich öffnete. »Typisch Montagabend.« Russ und Mark traten ein. Die alten Linoleumböden verstärkten das Rattern rollender Bahren und das Quietschen von Gummisohlen.
    »Da drüben.« Der jüngere Beamte deutete auf etwas. Umrahmt von schlaffen weißen Vorhängen, die in Schienen unter der Decke befestigt waren, stand eine athletisch wirkende Frau mit grauem Trainingsanzug. Sie lehnte über einem Brutkasten aus Kunststoff und schrieb in einen Notizblock.
    »Wer ist das, zum Teufel?«, fragte Russ. »Ich schwöre, wenn die hier irgendwelche Journalisten reinlassen, bevor wir den Sachverhalt geklärt haben –« Er ging mit entschlossenen Schritten zu dem Brutkasten. »He, Sie da!«
    Bei seinem aggressiven Ruf riss die Frau den Kopf herum, reckte das Kinn vor und starrte die beiden Beamten an. Sie war
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