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Elbenbiss /

Elbenbiss /

Titel: Elbenbiss /
Autoren: Tonja Züllig
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Kapitel 1
    W ie bitte?« Ich hatte mich bestimmt verhört, alles andere wäre zu absurd gewesen.
    »Du hast mich genau verstanden, Michael«, sagte der Professor.
    Als wir noch zusammen im Sandkasten gespielt hatten, war er Rafael gerufen worden. Später machten wir als berüchtigte »Erzengel« die Schule unsicher. Heute, mit knapp Vierzig, war er Facharzt für Psychiatrie, was mich nicht davon abhielt, ihn Professor zu nennen. Er kümmerte sich um die seelisch Angeschlagenen unserer Welt. Ich füllte meine Zeit mit dem Schreiben von Fantasy-Geschichten aus und kümmerte mich sozusagen um die Seelen in anderen Welten. Momentan war ich jedoch in einer ziemlich frustrierenden Schaffenskrise, die sich bereits mehrere Monate hinzog.
    Eine Zusammenarbeit zwischen uns stand nie zur Debatte. Das änderte sich mit dem heutigen Tag.
    »Ist das nicht ein Fall für die Polizei?«, fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf und schürzte in der für ihn typischen Art die Lippen. »Nein, Michael, das müssen die drei zusammen durchstehen.«
    »Also steckst du dahinter? Ist das eine neue Therapieform, und ich soll dein Spitzel sein?« Die Sache gefiel mir immer weniger. Unruhig rutschte ich auf dem Küchenstuhl herum und wischte mir mit dem Handtuch den Schweiß von der Stirn.
    Der Professor hatte vor meiner Wohnungstür gestanden, als ich von meiner morgendlichen Joggingrunde zurückgekommen war. Einmal mehr war es sinnlos gewesen. Nicht der leiseste Einfall, nicht die winzigste Idee hatte sich durch die Rennerei in mein Hirn locken lassen. Es war zum Verzweifeln. Meine nächste Erzählung würde vom großen, weiten Nichts handeln.
    Ich wollte unter die Dusche.
    »Du hast doch während deiner Zeit in diesem Tolkien-Fan-Club Elbisch gelernt, oder?« Der Professor nestelte in der Innentasche seines Jacketts herum. »Hast du es noch drauf?«
    »Natürlich«, antwortete ich pikiert. Er wusste genau, dass ich als Tolkien-Fanatiker fließend Elbisch lesen und schreiben konnte.
    Vorsichtig, beinahe feierlich, reichte er mir ein postkartengroßes, schimmerndes Etwas. Als meine Fingerspitzen es berührten, durchströmte mich für einen Wimpernschlag ein erhebendes Gefühl, als ob ich mit einem Mal die Welt in ihrer Gesamtheit erfassen könnte. Meine Fingerspitzen strichen über das geheimnisvolle Material. Ich hatte keine Ahnung, was es war. Es fühlte sich an wie … der Flügel eines Schmetterlings, einen passenderen Vergleich fand ich beim besten Willen nicht. Vermutlich schaute ich ziemlich dämlich aus der Wäsche, denn der Professor grinste.
    »Du hast es also auch gespürt. Faszinierend, nicht wahr?«, fragte er mit einem Funkeln im Blick. »Das ist nichts für die Polizei, Michael. Das ist eine Nachricht aus Mittelerde, nein, Valinor, hab ich mir sagen lassen, und fällt somit in dein Fachgebiet. Lies den Text.«
    »Was ihr ersehnt, erlangt ihr nur im Einklang mit euch selbst«, stand da, geschrieben in Tengwar, elbischen Buchstaben.
    Mittelerde, Valinor
, echote es in meinem Kopf. Der Professor war zwar schon immer mystisch veranlagt gewesen. Eigentlich stärker als ich. Aber dass er dermaßen absurde Dinge behauptete, überraschte mich nun doch.
    »Ha ha, sehr witzig. Du willst mich verarschen.« Ich schmiss den »Schmetterlingsflügel« auf den Küchentisch, stand auf und zog mir das verschwitzte T-Shirt über den Kopf. »Ich geh jetzt duschen. Lass dir was Besseres einfallen, um mich zu überzeugen, für deine Irren Kindermädchen zu spielen.«
    Als ich zurückkam, saß die hochgewachsene Gestalt mit der runden Nickelbrille immer noch in meiner Küche und schlürfte einen Espresso.
    »Ich zahl dir fünfhundert pro Tag plus Spesen. Ist das ein Argument?«
    Hmmm. Ich brauchte Geld. Er wusste es. »Im Ernst?«
    Sein Blick war Antwort genug. Ich setzte mich – mit einem großen Glas Wasser in der Hand – und schaute ihn erwartungsvoll an.
    Rose Ducœur, eine Psychotherapeutin, mit der er zusammenarbeitete, wurde seit gestern Abend vermisst. Sie war nicht zur letzten Therapiesitzung im Teamkochen erschienen. Meinen Kommentar, dass es nichts gäbe, womit man verzweifelten Seelen das Geld nicht aus den Taschen ziehen könne, wischte er mit einer Handbewegung weg. Sie habe eine sensationell hohe Erfolgsquote vorzuweisen, meinte er nur.
    Jedenfalls war sie verschwunden. Seine drei Patienten waren noch am selben Abend in seiner Wohnung aufgetaucht. Sie hatten ihm das Schmetterlingsflügelding gezeigt und ihn bekniet, sich sofort mit
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