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Everlasting

Everlasting

Titel: Everlasting
Autoren: Holly-Jane Rahlens
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Toronto.
    Finn betrachtete den Füller, fuhr mit dem Finger über die Gravur. Sie war in silberner Schreibschrift, die Buchstaben in einem anmutigen Fluss miteinander verbunden. Schreibschrift war für den Normalmenschen ebenso unverständlich wie ägyptische Hieroglyphen.
    Gewiss, für manche Berufe war es unerlässlich, Schreibschrift lesen zu können. Bibliothekare, Archäologen, Museumskuratoren, Paläographieexperten, Übersetzer und Historiker befassten sich im Zuge ihrer Arbeit oft mit handgeschriebenen Dokumenten. Solche Dokumente wurden in der Regel in Handschriften-Programme eingescannt, die mehr oder weniger gut geeignet waren, unterschiedliche Schrifttypen zu entschlüsseln, wobei sie Stil und persönliche Eigenarten der Schreiber mit berücksichtigten. Leider lieferten sie für Deutsch nur schwache Ergebnisse ab. Die Programme brauchten buchstäblich zigtausend Beispiele guter und schlechter Handschriften, um erfolgreich arbeiten zu können. Leider hatte aber der Dark Winter praktisch die gesamte deutsche Handschriftenkultur vernichtet. Die Programme hatten demzufolge einfach nicht genug Informationen, um Dokumente einigermaßen korrekt zu entschlüsseln. Aus diesem Grund wurde eine Reihe Archäologen und Museumskuratoren dazu ausgebildet, handgeschriebene Texte in Deutsch zu entziffern. Aber nur wenige verspürten je den Wunsch, nach einem Stift zu greifen und selbst zu schreiben. Finn bildete da keine Ausnahme.
    Finn betrachtete die Gravur auf dem Füllfederhalter seines Vorfahren. Der Familienlegende nach hatte Alisa, Florians erste Frau, den Füller für ihn als Geschenk gravierenlassen. Im Laufe der Jahrhunderte waren einige Buchstaben abgerieben worden, aber der größte Teil war nach wie vor gut zu erkennen:

     
    Das Jahr, in dem Alisa Florian den Federhalter schenkte, musste irgendein Jahr zwischen 2010 und 2019 gewesen sein, aber der Rest war –
    «Guten Morgen.»
    Finn fuhr herum. Rouge lächelte ihn an. «Du träumst.»
    Rouges Haar war ungekämmt, aber sie hatte geduscht. Der seidene Morgenmantel in Königsblau klebte an ihrem Körper. In dem schimmernden Blau konnte Finn deutlich die Konturen ihrer Brustwarzen erkennen.
    Rouge spürte seinen Blick. «Du hast keinen Sani-Trockner», sagte sie.
    «Nein. Bloß Handtücher. Wir Insulaner waren schon immer etwas altmodisch.»
    «Oh. Was ist das denn?», fragte sie und griff nach dem Füllhalter in seiner Hand. «Ein Füller. Wie drollig.» Sie schnupperte daran. Zog die Kappe ab. Testete die Federspitze mit der Kuppe ihres Zeigefingers. Steckte die Kappe wieder auf. Waren alle Quants am Olga-Zhukova-Institut so gründlich? Vermutlich.
    Rouge deutete auf die Gravur. «Was steht da?»
    «Ein paar Buchstaben fehlen. Aber da steht:
‹For Florian, In everlasting love, Your Alisa
.

Florian war unser Ur-Ahn.Florian Lawrence. Er hat es 2018 gerade noch geschafft, aus Europa zu fliehen. Alisa war seine erste Frau. Angeblich ist sie im Dark Winter an dem Virus gestorben. – Bringen die euch am OZI eigentlich nicht bei, Schreibschrift zu lesen?», neckte er.
    «Das Olga-Zhukova-Institut bringt uns das Denken bei.» Sanfter fügte sie hinzu: «Lesen ist was für Träumer. Und Dichter.» Sie gab ihm den Füllhalter zurück und sagte spöttisch: «‹In immerwährender Liebe.›»
    Finn erinnerte sich, wie er als Kind ebenfalls über die im 21.   Jahrhundert gebräuchliche englischsprachigen Floskel – «In immerwährender Liebe» – gestolpert war. In der Schule hatte er gelernt, dass Liebe zu Egoismus, Eifersucht, Wahnsinn, Elend und Krieg führte. Warum also sollte man sich da wünschen, dass sie «everlasting» wäre?
    In den einhundertsiebzig Jahren seit Ende des Dark Winter war es der Menschheit vordringlich ums Überleben gegangen, es ging darum, harte Arbeit für das Gemeinwohl zu leisten. Auch Fortpflanzung war zu einem Muss geworden – was natürlich keineswegs hieß, dass die Menschen zu Bumsbotern geworden waren. Der Mensch war ein soziales Wesen, dem etwas an seinen Mitmenschen lag. Jedermann wusste, wie wertvoll ein ausgewogenes Leben war. Sex war Teil dieses ausgewogenen Lebens und im Allgemeinen angenehm, Leidenschaft gehörte aber nicht dazu. Und die Liebe erst recht nicht.
    Andererseits   … er musste zugeben, dass es Momente gab, in denen er die Idee der romantischen Liebe unbestreitbar faszinierend fand, irgendwie   …
    «Finn?», sagte Rouge. «Du träumst schon wieder.»
    Finn schaute sie an. «Verzeihung. –
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