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Erzähl mir von morgen

Erzähl mir von morgen

Titel: Erzähl mir von morgen
Autoren: Christina Seidenberg
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nicht besser, als am gestrigen Abend. Meine Haut war vollkommen bleich und dunkle Ringe unter Augen zeugten von der halb durchgemachten Nacht. Meine Wange schillerte in den wunderschönsten Farben. Grün, blau und violett hatte sich die Haut an der Stelle verfärbt, an der mich der Angreifer geschlagen hatte.
    Mit einer Bürste fuhr ich durch meine braunen Locken und band sie zu einem einfachen Pferdeschwanz hoch. Ich nahm einen Lappen, in Form einer Ente, und hielt ihn unter das kalte Wasser. Vorsichtig presste ich ihn auf meine Augen und spürte die Kälte als willkommene Abwechslung zu meinen Kopfschmerzen auf meinem Gesicht. Am liebsten hätte ich mich unter die Dusche gestellt und die gestrige Nacht von mir abgewaschen, doch ich fühlte mich zu kraftlos.
    So musste ich mich mit einer Katzenwäsche zufrieden geben, ehe ich zurück in mein Schlafzimmer ging und mir eine weite Jogginghose und ein ausgewaschenes schwarzes T-Shirt aus meinem Schrank suchte.
    Als ich die Tür zum Wohn- und Essraum öffnete, blieb ich wie angewurzelt stehen.
    An meinem Küchetisch sah ich eine Frau, etwa Ende fünfzig, die seelenruhig eine Zeitschrift las. Auf dem Tisch stand eine dampfende Tasse Kaffee.
    In all den Jahren war mir nicht klar gewesen, wie sehr ich sie vermisst hatte, doch sie hier in meiner Küche sitzen zu sehen, ließ all meine unterdrückten Gefühle in mir wieder aufsteigen.
    Tränen traten in meine Augen, als ich ihr freundliches, sanftes und zugleich sehr besorgtes Gesicht sah. Sie hatte sich kaum verändert und sah ihrem jüngsten Sohn immer noch sehr ähnlich. Ihre schwarzen Haare waren in einer eleganten Frisur am Hinterkopf festgesteckt und ein dezentes Make-up betonte ihre eindrucksvollen, dunklen Augen. Ihr jungendliches Aussehen wurde durch ein blaues Polo-Shirt und weißen Baumwollhosen vervollständigt. Nur die Lachfalten an ihren Wangen waren ein wenig tiefer geworden.
     
    „Charlotte!“ flüsterte ich und als sie ihre Arme ausbreitete und mich mit einem erstickten „Greta!“ einlud, ließ ich mich einfach fallen.
    Ich konnte nicht mehr an mich halten und weinte bittere Tränen in ihren Armen. Es schien, als hätte ich jede Zeit der Welt, den sie hielt mich fest und wiegte mich leicht, als wäre ich ein kleines Mädchen. Sanfte Worte des Trostes drangen an meine Ohren, doch allein ihre Stimme zu hören, sie zu spüren, ließ mich all das vergessen, was in den letzten Stunden geschehen war.
     
    Es dauerte lange, bis ich keine Tränen mehr hatte, die geweint werden mussten und ich mich schließlich von ihr löste.
    Der Zusammenbruch ließ alle Gefühle der letzten Jahre, die vielen Zweifel und Fragen hochkommen und obwohl sie mich nur hielt, mich weder tröstete noch mit mir sprach, fühlte es sich an, als wäre eine große Last von meinen Schultern genommen worden.
    Ich lächelte schüchtern und versuchte mir schnell die Tränen von meinem feuchten Gesicht zu wischen, doch sie zog mich nur erneut in ihre Arme und hauchte mir einen Kuss auf die Wange.
    „Endlich habe ich dich wieder!“ sagte sie und führte mich zum Sofa. Wir setzten uns und ich sah sie aus tränennassen Augen vorsichtig an.
     
    Ich hatte Nates Mutter, seine ganze Familie in den letzten Jahren so vermisst und doch hatte ich mich nicht dazu durchringen können, sie zu besuchen, obwohl ich es mir so sehr gewünscht hatte. Immerhin war ich einfach aus ihrem Leben verschwunden. Ihre Anrufe und die Einladungen zu jeder Geburtstagsfeier, zu jedem Weihnachts- und Osterfest, zu jedem Thanksgiving hatte ich gelesen und unbean twortet weggelegt. Ich hatte mir gedacht, dass sie mir sicher sehr böse waren und mich ohnehin nicht mehr sehen wollten.
    Doch ich hatte mich geirrt, das erkannte ich nun.
    „Es tut mir so Leid!“ flüsterte ich leise, doch Charlotte sah mich nicht im Mindesten enttäuscht an.
    „Greta, du hast uns so gefehlt!“ erwiderte sie. „Geht es dir gut?“ fragte sie mich schließlich und sah mich prüfend an.
    Ich nickte langsam und erzählte ihr schließlich, was am gestrigen Abend geschehen war, nachdem ich von der Firmenfeier in Doyle’s Cafe, einem kleinen irischen Pub in der Washington Street zur Subway gegangen war.
     
    Sie hörte mir schweigend zu, bis ich alles erzählt hatte. Es fühlte sich an, als würde der dunkle Nebel der letzten Nacht aufbrechen und ein kleiner Streifen Helligkeit durch die Dunkelheit erscheinen. Charlotte sagte nichts, ließ mich einfach alles sagen, was mir auf dem Herzen lag. Sie
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