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Erzähl mir von morgen

Erzähl mir von morgen

Titel: Erzähl mir von morgen
Autoren: Christina Seidenberg
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mitnahm. Sie hatte sich seit Jahren wieder gemeldet, das war aber auch schon alles. Eine alte Freundin, die Hilfe gebraucht hatte und er war gerade zur Stelle gewesen. Er sollte sich wieder seiner Aufgabe widmen und seine Anklage vorbereiten, sonst würde er sich in der nächsten Woche bei der Anhörung reichlich dumm anstellen, doch andererseits wunderte er sich darüber, dass sie gerade ihn angerufen hatte.
     
    Wäre es nicht normal gewesen, wenn sie in den sieben Jahren, die sie sich nicht gesehen hatten, neue Freunde und Bekannte gefunden hätte? Als sie angerufen hatte, kam ihm dieser Gedanke nicht in den Sinn. Er hatte nur ihre tonlose, zittrige Stimme am Telefon gehört und war sofort hellwach gewesen. Natürlich war er zu ihr gefahren. Sie war Greta, Sams kleine Schwester und er hatte ihm versprochen, auf sie aufzupassen.
    Als er sie im Krankenhaus auf der sterilen Krankenliege sitzen gesehen hatte, war ihm das Herz stehen geblieben. Seit Jahren, sieben um genau zu sein, hatten sie sich nicht gesehen und er würde den ersten Eindruck, den er nun vor ihr gewonnen hatte, sein Leben lang nicht mehr vergessen.
    Sie sah schrecklich aus, hatte blaue Flecken, eine aufgeplatzte Lippe und eine üble Schürfwunde an der Wange. Ihre linke Hand war mit einem dicken Verband bandagiert gewesen, doch als sie aufgesehen und ihn ansehen hatte, erkannte er, dass aus dem Mädchen, das er gekannt hatte, eine erwachsene Frau geworden war.
    Sie trug ihre Haare zu einem einfachen Pferdeschwanz. Es schien ihm, als wären sie dunkler, als in seiner Erinnerung, doch sie lockten sich noch immer leicht. Ihr Gesicht war kantiger, fast ein wenig hagerer geworden. Den Babyspeck hatte sie abgelegt und es schien, als hätte sie in den letzten Wochen vielleicht auch Monaten, sehr viel Arbeit und Stress gehabt. Nur ihre Augen hatten sich nicht verändert. Sie waren immer noch braun-grün und blickten unsicher und ein wenig ängstlich in der Gegend umher. Damals, als Sam noch lebte, war sie oft mit ihnen gekommen und Nate hatte sie wirklich gern gehabt. Durch ihren Sprachfehler, das Stottern, hatte sie wenig Selbstbewusstsein, doch mit einem Bruder wie Sam fiel es ihr nicht schwer ein lebenslustiges Mädchen zu werden. Nach seinem Tod war sie in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen. Sie hatte tagelang nicht gesprochen und schien wie eine Marionette durch ihr Leben zu gleiten. Mit Sam war ihr eine wichtige Stütze verloren gegangen. Er war ihr Vertrauter, ihr engster Freund und ihre Familie gewesen. Nate hatte versucht, ihr so gut es ging zu helfen, doch erst als er vorgeschlagen hatte, dass sie gemeinsam zum See, zum Ferienhaus seiner Eltern, fahren könnten, hatte er ein Leuchten in ihre Augen gezaubert. An diesem Tag jedoch war ihre Freundschaft zerbrochen.
     
    Er fuhr zusammen, als es an seiner Bürotür klopfte und Milla, seine Sekretärin und wie er immer zu scherzen pflegte, seine rechte und linke Hand, steckte den Kopf herein.
    „Nate, ich gehe nach Hause. Brauchst du noch etwas?“ fragte sie und lächelte ihn spitzbübisch an.
    Er grinste, schüttelte dann jedoch den Kopf.
    „Danke, ich wünsche dir einen schönen Feierabend!“
    Sie klimperte mit den schwarz getuschten Wimpern. An ihrem dünnen Handgelenk klirrten einige modische Armreifen.
    „Und ich kann wirklich nichts mehr für dich tun?“ fragte sie, ehe sie sich, ohne eine Antwort abzuwarten, umdrehte, die Tür schloss und ihn allein ließ.
    Nate schüttelte den Kopf. Milla flirtete schamlos mit ihm und das bereits seit dem Tag, an dem er sie eingestellt hatte. Dass sie 67 Jahre alt war, nur aus Spaß an der Freude arbeitete, weil ihre drei verstorbenen Ehemänner ihr genügend Geld hinterlassen hatten, und mit ihren beiden Katzen gemütlich und zufrieden in einer kleinen Drei-Zimmerwohnung wohnte, störte sie nicht im Geringsten. Sie hatte ihm einmal gesagt: „Mein ganzes Leben habe ich für Walter, Jack und George gelebt. Jetzt mache ich, was mir gefällt und niemand schreibt mir vor, was ich zu tun und zu lassen habe!“
     
    Nate klappte die Aktenmappe zu und drehte sich mit seinem Schreibtischstuhl in Richtung der großen Fensterfront, durch die er direkt auf den gegenüberliegenden Park, den Thomas Park, sehen konnte. Bisher hatte ihn dieser Anblick immer beruhigt und seine Gedanken geordnet, doch an diesem Tag wollte es ihm einfach nicht gelingen.
    Er dachte über sie nach, was sie in den letzten Jahren getan und erlebt haben mochte. Sie war jetzt 26 Jahre alt, doch
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