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Erst mal bis zur nächsten Kuh...

Erst mal bis zur nächsten Kuh...

Titel: Erst mal bis zur nächsten Kuh...
Autoren: Jürgen Barth
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für ihren Glauben in den Tod gingen. Die Reliquien der heiligen
Fides gelangten im Jahre 866 in das frisch gegründete Benediktinerkloster
Conques am Berghang oberhalb des Baches Ouche . Nach
damaligem Verständnis brauchte das Kloster eine Reliquie, die sterblichen
Überreste eines bedeutenden Glaubenszeugen. Und da Reliquien nicht freiwillig
kommen, musste man sie sich beschaffen. Ein Mönch schaffte sie heimlich nach
Conques. „Heimliche Übertragung“ nennt man das beschönigend oder „fromme
Entwendung“. Ehrlicherweise wird man das schlicht und einfach als Diebstahl
bezeichnen müssen. Aber das ist lange her. In Conques wurde die heilige Fides
in Ehren gehalten. Es kamen viele Pilger, der Wohlstand des Klosters mehrte
sich. Aber auch das ist lange her. Nach der Französischen Revolution verfiel
das verwaiste Kloster, bis im Jahre 1873 Prämonstratensermönche einzogen, die den wiederauflebenden Pilgerstrom betreuten. Dies tun sie auch
heute, wie ich selber feststelle.
    „Wir
sind hier nicht im Hotel, wie Sie alle wissen“, sagt der Mönch in seiner weißen
Kutte beim Abendessen zu den rund 60 Frauen und Männern, die im Speisesaal
sitzen, „sondern wir sind eine Pilgerherberge. Wir sind auf dem Weg.“ Dann höre
ich zum ersten Mal das Lied der Jakobspilger, das mich von da an begleitet -
bis hinein in meine Träume:
     
    „ Tous les matins, nous prenons le chemin ,
    tous les matins, nous allons plus loin,
    jour après jour la route nous appelle ,
    c’est la voie de Compostelle .
    Ultreia ! Ultreia !
    Et sus eia. Deus adjuva nos !“
     
    Am späten Abend in der Kirche von Conques:
Nach dem Abendgebet bitten die Mönche alle, die am nächsten Tag weiterwandern,
um den Altar. Jeder sagt seinen Namen ins Mikrophon, jeder erhält das
Markusevangelium in seiner Sprache. Der Pilgersegen in Französisch, Englisch
und Deutsch, noch einmal das Lied der Jakobspilger: Ultreia , ultreia ... Dann verlöschen die Lichter, nur die
Kerzen brennen noch. Ein Lichtstrahl richtet sich auf das wunderbare
Steinrelief hoch oben im Querschiff: Der Engel Gabriel kommt zu Maria, das
Wunder der Menschwerdung Gottes. „Maria ist der erste Mensch, der ja sagt zu
Gottes Plan“, wird Paul ein paar Tage später zu mir sagen, ein junger Katholik
aus Versailles.
    „Salve regina “, singen die Mönche in Conques an diesem Abend
in die Stille der Abteikirche hinein. Ich spüre die Weite der Kirche — weit
hinaus über provinziellen Protestantismus und engstirnigen Katholizismus.
Wortlos setzt sich Frère Jean-Daniel, einer der Prämonstratensermönche ,
an den großen Flügel im Querschiff und spielt - Improvisationen zu Taizé,
manches von den Beatles, Klassisches. Die Menschen sitzen auf den
Kirchenstufen, in den Bänken, an Säulen gelehnt und lauschen. Niemand spricht.
Welche Kraft, welche Tiefe wird spürbar in der Musik!

Mein Freund, der Stock
     
    In Noailhac wird das Johannesfest gefeiert, am Johannestag,
dem 24. Juni, zu Ehren von Johannes dem Täufer. In der Kirche sind viele
fröhliche Leute, und draußen gibt es selbstgebackenes Brot und selbstgebackenen
Kuchen. Was man nicht kennt, soll man zumindest mal ausprobieren, denke ich,
und Hunger habe ich außerdem.
    So
kaufe ich mir ein Stück Kuchen und laufe mit dem Kuchenstück in der Hand aus
dem Dorf hinaus, den Berg hoch. Der Kuchen trieft vor Fett, und ich muss
aufpassen, dass ich mir nicht die Hose und das Hemd voll tropfe. Als ich
endlich oben bin und der Kuchen gegessen ist und ich meine Hände wieder frei
habe, merke ich: Mein Stock ist weg. Ich habe meinen Stock vergessen, unten in Noailhac , unten im Tal.
    Der
Stock ist ein einfacher Stock aus Kirschholz, wie er überall wächst, nichts
Besonderes! Soll ich ihn dort unten stehen lassen und mir irgendwo einen neuen
suchen? Aber Peter hat ihn mir geschenkt zum Abschied, bei der letzten Taizé-Andacht , zu Hause in unserer Gemeinde in Mühlburg.
Und nach mittlerweile rund tausend gemeinsamen Kilometern ist mir der Stock
fast so etwas wie ein Freund geworden. Also lasse ich meinen Rucksack am
Wegrand liegen und laufe zurück, hinab ins Tal, wo hoffentlich noch der Stock
steht am Kuchenverkaufsstand von Noailhac .
    Alle,
die mir unterwegs begegnen, schauen mich fragend an. „Stock vergessen“, erkläre
ich auf Englisch, Französisch und Deutsch. Noch nach Tagen kommt es vor, dass
mich irgendwo jemand anspricht: „ Don’t forget your stick!“ „ Vous avez votre bâton ?“ Nein, ich vergesse ihn nicht
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