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Erst mal bis zur nächsten Kuh...

Erst mal bis zur nächsten Kuh...

Titel: Erst mal bis zur nächsten Kuh...
Autoren: Jürgen Barth
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schaue ich nach: Es sind noch rund 1200 Kilometer.
Was für ein Weg!
    Moissac
war im Mittelalter eine wichtige Station auf dem Jakobsweg, lese ich in meinem
kleinen Führer, die Abteikirche Saint-Pierre und der Kreuzgang werden von der Unesco zum Weltkulturerbe gerechnet. Ich sitze den ganzen
Nachmittag im Kreuzgang. Um ein Haar wäre er vor hundert Jahren abgerissen
worden, weil er der Eisenbahnlinie im Weg war. Aber kluge Menschen mit Gespür
haben es glücklicherweise verhindert. Man hört die Züge hinter dem Kreuzgang
vorbeirauschen von Zeit zu Zeit. Eine Führerin erklärt mit leidenschaftlichen
Bewegungen ihrer Arme einer Reisegruppe die architektonischen und theologischen
Einzelheiten in französischer Sprache. Sie schreitet von Kapitell zu Kapitell,
weist auf Feinheiten hin, ist selber voller Begeisterung. Die Reisegruppe wird
immer müder.
    Ich
selber sitze in einer Ecke und versuche, mir das Leben in früheren Zeiten in
diesem Kreuzgang vorzustellen. Die Harmonie der Säulen, die Schönheit der
Kapitelle, die Kathedrale mit dem wuchtigen Turm, die uralte Lärche in der
Mitte, es ist unbeschreiblich. Die Erklärungen der Reiseführerin, die
unermüdlich weiterredet, verschwimmen zu einem fernen Plätschern. Auch das
gelegentliche Rauschen vorbeifahrender Züge berührt mich nicht mehr. Ich bin
angekommen, sitze und schweige. Ein herrlicher Sonntag.
     
    Vier
Schwestern vom Orden „Marie Mère de l’église“ laden
am Abend zur Vesper in der Abteikirche ein. Es sind nur eine Handvoll Leute da.
Die Schwestern singen die Psalmen im Wechsel, sie füllen die Kirche mit ihrem
Gesang. Ich bedanke mich am Ende bei einer der Schwestern für den
Abendgottesdienst und ihren schönen Gesang. Die Schwester spricht deutsch. Sie
lächelt freundlich, vornehm, zurückhaltend. „Die Kirche ist für diese Gesänge
gebaut“, sagt sie, „sie hat eine herrliche Akustik! Wir wollen das regelmäßige
Gebet hier wieder einüben.“
     
    Draußen
vor der Kirche sitze ich noch in der Abendsonne und esse eine Kugel Eis für
einen Wahnsinnspreis von 2,50 Euro. Swenja kommt und
kurz darauf Ute, die Norwegerin, die den ganzen Tag unterwegs waren. Sie sind
beide todmüde nach der langen Wanderung in der brütenden Sommerhitze. „Du
siehst ja sehr ausgeruht und entspannt aus“, sagt Swenja ,
als sie mich auf dem Kirchplatz sitzen sieht. So ist es auch. Es war wirklich
ein herrlicher Sonntag in Moissac.

Lectoure
     
    Die Gascogne ist das Land der
Sonnenblumen. Riesige Felder, ich kann mich nicht daran satt sehen und mache
viel zu viele Fotos. Am Anfang sind die Felder grün, dann sind irgendwo
einzelne gelbe Pflanzen aufgeblüht, irgendwann explodieren sie, strecken sich
der Sonne entgegen. Ein Blütenmeer. Und an einem Regentag senken sie die Köpfe.
Auf Französisch heißt die Sonnenblume „ tournesol “,
erklärt mir Anne aus der Bretagne, weil sie sich — wörtlich übersetzt - der
Sonne zudreht. Was für ein schöner Name. Was für ein schönes Bild, auch für uns
Menschen: sich dem Licht zuwenden, dem Licht entgegengehen.
    Aus den Sonnenblumenfeldern heraus
erhebt sich die Kathedrale von Lectoure, eine der ältesten Städte im
fruchtbaren Gebiet des Département Gers. Freundlicher Pilgerempfang in der
Kathedrale: Ein paar Hospitalières, die freiwilligen Helfer, begrüßen dort am
Nachmittag die Pilger und bieten ihnen Erfrischungen an, Saft und Kekse. Sie
schicken mich zum „Accueil chrétien au presbytère“ - im alten Pfarrhaus gegenüber
der Kirche kann man auf Spendenbasis übernachten. Am Abend sitzen wir um den
großen Tisch mit dem Pfarrer, einem älteren Herrn, der mit krächzender Stimme
das Tischgebet spricht und dann alle auffordert zu erzählen, woher sie kommen.
Ein Ehepaar hat eine Flasche Wein mitgebracht, weil es heute Hochzeitstag hat.
Der Pfarrer hat neben sich ein dickes Etui liegen, verschlossen mit einem
Reißverschluss. Ob das wohl seine Bibel, sein Gesangbuch, sein Brevier sei,
frage ich ihn. Er lacht und öffnet den Reißverschluss: Nein, nein, es ist nur
seine riesige Pillenschachtel mit Tabletten für Herz, Kreislauf, hohen
Blutdruck. Allgemeine Heiterkeit am Tisch. Am Ende singen wir alle gemeinsam
das Pilgerlied: „ Tous les matins nous prenons le chemin ...
Jeden Morgen ziehen wir hinaus...“ Frédéric, der junge Franzose, der im
Pfarrhaus mitarbeitet, hat Gebete zusammengestellt, die er für die Pilger
auslegt. Ob ich nicht auch ein Gebet in deutscher Sprache aufschreiben könne,
fragt
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