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Erst mal bis zur nächsten Kuh...

Erst mal bis zur nächsten Kuh...

Titel: Erst mal bis zur nächsten Kuh...
Autoren: Jürgen Barth
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Schweiz
Zaghafte Gedanken am Anfang
     
    In
Konstanz am Münster steht ein Wegweiser: 2340 km nach Santiago de Compostella.
Ich sitze am Abend im Gasthaus „Zum Kreuz“ auf der Insel Reichenau und habe ein
schales Gefühl. Es ist der 13. Mai, und am nächsten Morgen will ich mich auf
den Weg machen, zu Fuß und ganz allein, nicht nur ein paar Tage, sondern so
weit die Füße tragen, bis nach Santiago de Compostella, am Rande des Ozeans.
Einfach aussteigen, Abstand gewinnen von allem, nicht nur funktionieren,
sondern spüren, dass ich lebe. Wo stehe ich in meinem Leben? Wo will ich hin?
Was kommt noch? Worauf kommt es an?
    „Irgendwann
einmal werde ich zu Fuß nach Santiago gehen!“ Seit Jahren rede ich davon,
verschiebe es Jahr für Jahr. Man braucht Zeit dafür und auch ein wenig Geld.
Vielleicht im Ruhestand?
    Da
fährt mir eines Tages ein heftiger Schmerz in den Rücken. Ein paar Tage nur,
aber es sind Tage, in denen mir die eigenen Grenzen plötzlich schlagartig
bewusst werden. Ich werde nicht immer fit sein. Und wesentliche Dinge im Leben
soll man nicht verschieben auf den Sankt Nimmerleinstag.
    „Du
lachst gar nicht mehr wie früher“, hat meine Frau zu mir gesagt eines Abends.
Sie ist eine gute Beobachterin. Seit mehr als 25 Jahren bin ich Pfarrer in
einer Gemeinde - und ich bin es gern. Aber manchmal spüre ich die Grenzen der
Belastbarkeit. Ich habe das Empfinden, ständig mit laufendem Motor zu leben.
Allzeit bereit. Und freie Tage oder der jährliche Urlaub bringen mich nicht zum
wirklichen Abschalten, zum Abstand von allem. Man sollte mal aus der Rolle
schlüpfen können, im wahrsten Sinne des Wortes „aus der Haut fahren“. Wer bin
ich eigentlich, wenn ich nicht der Pfarrer bin? Es ist Zeit, aufzubrechen.
Nicht irgendwann, sondern jetzt. Doch jetzt, auf der Insel Reichenau, frage ich
mich plötzlich, ob ich tatsächlich aufbrechen will für so lange Zeit. Ist es
nicht doch eine verrückte Idee? Sollte ich nicht lieber zuhause bleiben, an den
Baggersee fahren und die Füße ins Wasser hängen? Man kann ja auch nachdenken,
wenn man irgendwo sitzt. Ich bin plötzlich schweigsam, und das Einzige, was ich
essen kann an diesem Abend, ist eine Pfeffersuppe im Gasthaus „Zum Kreuz“ auf
der Insel Reichenau.
     

Pilgerpass
     
    Auf
der Insel Reichenau werden im Münster die Gebeine des Evangelisten Markus
aufbewahrt. Der junge Mann, mit dem ich am Eingang des Klosterschatzes ins
Gespräch komme, ist jedenfalls fest davon überzeugt. Ich denke darüber nicht
nach und finde es eine schöne Route: von der geschichtsträchtigen Insel
Reichenau mit ihren drei herrlichen romanischen Kirchen aufzubrechen nach
Santiago zum Grab des Jüngers Jakobus. Vom Evangelisten Markus zum Jünger Jakobus.
Später, viel später, in Hospital de Órbigo wird mir jemand erzählen, der erste
Jakobspilger sei doch vor tausend Jahren auch von der Insel Reichenau gekommen.
Und ich lese es dann auch schwarz auf weiß: In den Markusmirakeln vom Kloster
Reichenau wird davon berichtet, 930 nach Christus. Aber davon weiß ich bei
meinem Aufbruch noch nichts, wie ich vieles noch nicht weiß vom Camino, dem
Jakobsweg.
    In
meinem Rucksack ist nur das Allernötigste. Einen Pilgerpass brauche man, habe
ich im Internet gelesen, er sei die Voraussetzung für die Übernachtung in den
Pilgerherbergen in Spanien. Aber ob ich überhaupt so weit kommen werde? Ich
bastle mir erst mal selber einen Pilgerpass, ein kleines Vokabelheft aus dem
Schreibwarengeschäft. Ich schreibe meinen Namen auf die erste Seite und klebe
eine Postkarte mit dem „Engel der Auferstehung“ aus dem Codex der Reichenauer
Mönche auf die zweite Seite. Auferstehung - ein wenig ist das meine Hoffnung,
dass mich dieser Engel berührt auf meinem Weg, mich aufrichtet, mir neue
Perspektiven zeigt für mein Leben.
    Um
11.23 Uhr kommt das Schiff, das mich über den See nach Konstanz fährt. Kurzer
Abschied - einsteigen, winken und wegfahren. So war es ausgemacht. Und so
machen wir es jetzt. Aber was mache ich da eigentlich? Der Zöllner in
Kreuzlingen will meinen Ausweis sehen - er ist der Einzige auf der ganzen
Reise. Als ich ihn frage, wo denn hier der Schweizer Jakobsweg beginnt, weiß er
davon nichts. Aber bald entdecke ich die ersten Markierungen, und sie werden in
verschiedener Form - als Wegweiser, weißrote Zeichen, gelber Pfeil, blaue
Muschel - bis zum fernen Ziel zu finden sein. Eine großartige Sache, wenn man
darüber nachdenkt: ein Weg quer durch Europa bis zum Ziel
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