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Erbarmen

Erbarmen

Titel: Erbarmen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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Prolog
     
    Sie kratzte sich an den glatten Wänden die Fingerspitzen blutig und hämmerte mit den Fäusten an die dicken Scheiben, bis sie ihre Hände nicht mehr spürte. Immer wieder tastete sie sich in der vollständigen Dunkelheit bis an die Stahltür heran und bohrte ihre Nägel in den Spalt. Aber die Tür ließ sich keinen Millimeter bewegen, und die Kante war scharf
    Als ihr schließlich die Fingernägel abbrachen, fiel sie keuchend auf den eiskalten Boden. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Mit aufgerissenen Augen starrte sie in die undurchdringliche Finsternis. Dann entfuhr ihrer Kehle ein Schrei. Ein Schrei, der ihr in den Ohren gellte, bis die Stimme versagte.
    Als sie den Kopf in den Nacken legte, spürte sie wieder die Ahnung frischer Luft, die von der Decke herunterströmte. Wenn sie Anlauf nähme, könnte sie womöglich dort hinaufspringen und sich an irgendetwas festklammern. Vielleicht würde ja doch etwas passieren.
    Ja, vielleicht wären die Teufel dort draußen gezwungen, zu ihr hereinzukommen.
    Und wenn sie schnell genug war und mit ausgestreckten Fingern auf deren Augen zielte, würde
es
ihr vielleicht gelingen, sie außer Gefecht zu setzen. Und dann konnte sie vielleicht entkommen.
    Sie saugte an ihren blutenden Fingern. Dann stützte sie sich mit den Händen vom Fußboden ab und zwang sich aufzustehen.
    Blind starrte sie an die Decke. Wer mochte wissen, wie hoch die Decke war. Wer wusste, ob
es
überhaupt etwas gab, woran man sich festhalten konnte. Aber sie musste
es
versuchen. Sie musste einfach!
    Sie
zog ihre Jacke aus, faltete
sie
sorgfältig zusammen und legte
sie in
eine Ecke. Dann setzte
sie
mit ausgestreckten Armen zum Sprung an
-
und stieß ins Leere. Ein paarmal wiederholte
sie
das, lehnte sich schließlich an die Wand und ruhte sich kurz aus. Dann nahm
sie
erneut Anlauf und sprang mit aller Kraft hoch ins Dunkel.
Die
Arme ruderten nach irgendetwas Greifbarem, doch wieder fiel
sie
zurück auf den Boden.
Sie
rutschte aus, und als
sie
mit der Schulter auf den Beton aufschlug, versuchte
sie
ein Stöhnen zu unterdrücken, aber als ihr Kopf gegen die Wand knallte und
sie
Sterne sah, schrie
sie
laut auf
    Danach lag
sie
lange Zeit vollkommen still da. Sie hätte gern geweint. Aber wenn die Teufel da draußen
sie
hören konnten, glaubten
sie
sicher,
sie
wolle aufgeben. Doch sie würde nicht aufgeben. Im Gegenteil.
    Sie
musste auf sich achten. Für ihre Peiniger war
sie
die Frau
im
Käfig. Aber über die Abstände zwischen den Gitterstäben bestimmte
sie
selbst. Sie würde weiter denken,
sich
mit ihren Gedanken die Welt öffnen,
sie
würde ihnen den Gefallen nicht tun und verrückt werden. Es würde ihnen nicht gelingen, ihren Willen zu brechen, niemals. Das beschloss
sie
dort auf dem eiskalten Boden, und
sie
spürte kaum den Schmerz in der Schulter und das Pochen über dem rechten Auge, das längst zugeschwollen war.
    Früher oder später würde
sie
ihnen entkommen.
     

Kap 1 - 2007
     
    Carl trat einen Schritt näher an den Spiegel heran. Mit dem Zeigefinger fuhr er sich über die Stelle an der Schläfe, wo ihn die Kugel gestreift hatte. Die Wunde war verheilt, aber die Narbe zeichnete sich am Haaransatz deutlich ab. Sofern sich überhaupt jemand die Mühe machte hinzusehen.
    Und wer zum Teufel sollte das schon tun?, dachte er und betrachtete prüfend sein Gesicht.
    Er hatte sich verändert. Die Falten um den Mund waren tiefer geworden, die dunklen Ringe unter den Augen nicht zu übersehen. Augen, die etwas ausdrückten, das nie zu Carl Mørck gehört hatte: Gleichgültigkeit. Nein, er war nicht mehr der Alte, der erfahrene Kriminalbeamte, der für seine Arbeit brannte. Er war auch nicht mehr der elegante groß gewachsene Jütländer, bei dessen Anblick sich Augenbrauen hoben und Lippen öffneten. Aber was bedeutete das jetzt noch?
    Er knöpfte sein Hemd zu, zog das Jackett über. Den letzten Rest Kaffee kippte er weg, dann knallte er die Wohnungstür hinter sich zu. Die anderen konnten ruhig merken, dass es Zeit war, aus den Federn zu kommen. Beim Zuziehen der Tür fiel sein Blick auf das Namensschild. Das musste er endlich auswechseln. Vigga war schon vor langer Zeit ausgezogen. Die Sache war gelaufen, auch wenn sie noch nicht geschieden waren.
    Er ging in Richtung Hestestien. Wenn er sich beeilte, blieb ihm noch Zeit, Hardyeine halbe Stunde im Krankenhaus zu besuchen, bevor er im Präsidium sein musste.
    Er sah den Kirchturm, der rot über die nackten Bäume ragte, und er versuchte sich
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