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Erbarmen

Erbarmen

Titel: Erbarmen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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für alle das Beste gewesen, Carl wäre niemals in den Fall involviert worden.
    Es verging eine Minute, dann öffnete Merete ganz langsam die Augen. Offensichtlich störte sie das Licht. Sie blinzelte, als versuchte sie den Blick zu fokussieren, aber es gelang ihr offenbar nicht. Dann schloss sie die Augen wieder.
    Das ehemals Weiße in ihren Augen war ein Netzwerk in Rotbraun, und dennoch nahm ihr Anblick in wachem Zustand Carl förmlich den Atem.
    »Komm Uffe«, sagte die Oberschwester aus Egely. »Setz dich ein bisschen zu deiner Schwester.«
    Anscheinend verstand er das, denn er ging allein zum Stuhl und setzte sich an den Bettrand. Er legte sein Gesicht so nahe an das seiner Schwester, dass die blonden Haare, die ihm in die Stirn hingen, von ihren Atemzügen vibrierten.
    Als er eine Weile so gesessen und sie betrachtet hatte, hob er die Bettdecke an, sodass ihr Arm zu sehen war. Dann nahm er ihre Hand. So blieb er sitzen. Sein Blick wanderte still über ihr Gesicht.
    Carl trat ein paar Schritte vor und stellte sich neben die Oberschwester ans Fußende des Bettes.
    Der Anblick des stummen Uffe mit der Hand der Schwester in seiner und seinem Gesicht an ihrer Wange war so unglaublich berührend. In dem Moment wirkte er wie ein verirrter Welpe, der nach ruhelosem Suchen endlich zur Wärme und Geborgenheit der Geschwisterschar zurückgefunden hat.
    Auf einmal zog Uffe sich ein wenig zurück, betrachtete sie noch einmal eingehend und legte dann die Lippen an ihre Wange und küsste sie.
    Carl sah, wie ihr Körper unter den Laken zitterte, und am Ausschlag des EKG-Geräts erkannte er, dass der Herzschlag sich etwas beschleunigte. Er ließ den Blick zum nächsten Messinstrument wandern. Ja, auch die Pulsfrequenz nahm etwas zu. Dann seufzte sie tief auf und öffnete die Augen. Diesmal schützte Uffes Gesicht sie vor dem direkten Lichteinfall, und das Erste, worauf ihr Blick fiel, war der Bruder, der sie anlächelte.
    Carl merkte, wie er selbst die Augen aufriss. Meretes Blick wurde zunehmend klarer. Ihre Lippen öffneten sich. Dann zitterten sie. Zwischen den beiden Geschwistern gab es ein Spannungsfeld, das einfach keinen Kontakt zulassen wollte. Man konnte es an Uffes Gesicht regelrecht ablesen. Es wurde immer dunkler, als hielte er den Atem an. Dann begann er vor- und zurückzuschaukeln, und in seiner Kehle formten sich Klagelaute. Er öffnete den Mund, und er wirkte bedrängt und verwirrt. Er kniff die Augen zusammen und ließ die Hand seiner Schwester los, dann führte er beide Hände an seinen Hals. Die Töne wollten einfach nicht kommen, aber er dachte sie, das war ganz deutlich.
    Dann entließ er alle Luft auf einmal aus den Lungen und schien sich unverrichteter Dinge zurück auf den Stuhl fallen lassen zu wollen. Aber da kam der Kehllaut aufs Neue, dieses Mal weiter oben im Hals.
    »MMmmmmm«, formte er und holte erschöpft ganz tief Luft. »MMmmmmee«, kam dann. Merete sah ihren Bruder jetzt intensiv an. Kein Zweifel, dass sie wusste, wer vor ihr saß. Ihre Augen glänzten.
    Carl schnappte nach Luft. Die Krankenschwester neben ihm hielt die Hände vor ihren Mund.
    »MMmmmeerete«, kam es schließlich nach einer enormen Kraftanstrengung von Uffe.
    Uffe selbst war ganz schockiert über den Strom von Lauten.
    Er atmete schnell und ließ einen Moment den Kiefer sacken. Die Frau neben Carl begann zu schluchzen, ihre Hand suchte Carls Schulter.
    Da kam Uffes Arm wieder nach oben und nahm Meretes Hand.
    Er drückte sie und küsste sie, und er zitterte am ganzen Leib, als hätte man ihn gerade aus einem Loch im Eis gezogen.
    Und da nahm Merete plötzlich mit einem Ruck den Kopf zurück, die Augen waren weit aufgerissen, der ganze Körper war angespannt, alle Finger der freien Hand presste sie wie bei einem Krampf in die Handinnenfläche. Sogar Uffe bemerkte die Veränderung als etwas Unheildrohendes. Die Oberschwester trat schnell vor und zog an der Klingel.
    In dem Moment drang aus Merete ein tiefer, dunkler Ton, und die Anspannung wich schlagartig aus dem gesamten Körper. Sie hatte die Augen noch immer geöffnet und suchte den Blick ihres Bruders. Dann kam noch ein dumpfer Ton aus ihr. Jetzt lächelte sie. Es wirkte, als reizte sie der Ton, der aus ihrem Inneren kam.
    Hinter Carl wurde die Tür geöffnet, und eine Krankenschwester stürmte gefolgt von einem jungen Arzt mit suchendem Blick ins Zimmer. Sie bremsten vor dem Bett ab und blickten auf eine entspannte Merete Lynggaard, die ihren Bruder an der Hand
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