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Erbarmen

Erbarmen

Titel: Erbarmen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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dazu war das Pfeifen aus den Düsen über ihr viel zu stark.
    Dann war das Einsickern der Luft schlagartig unterbrochen und das Geräusch verschwunden. Kurze Zeit bildete sie sich ein, dass Rettung auf dem Weg zu ihr sei. Sie hörte dort draußen Stimmen. Sie riefen sie, und ihr Heulen wurde schwächer. Die Stimme fragte, ob sie Merete sei. Alles in ihr sagte: » Ja, ich bin hier.« Vielleicht sagte sie es auch laut. Danach sprachen sie von Uffe, als wäre er ein ganz gewöhnlicher Junge. Sie sagte seinen Namen, aber das klang falsch. Dann war ein Knall zu hören, und Lasses Stimme war wieder da und durchtrennte die Hoffnung. Sie atmete langsam und spürte jetzt, wie sich der heftige Druck ihrer Finger von den Handgelenken löste. Ob es noch blutete, wusste sie nicht. Sie spürte weder Schmerz noch Linderung.
    Und dann setzte das Pfeifen unter der Decke wieder ein.
    Als der Boden unter ihr bebte, wurde alles gleichzeitig heiß und kalt. Sie dachte an Gott und flüsterte in Gedanken seinen Namen. Dann blitzte es in ihrem Kopf auf. Ein Lichtblitz, gefolgt von enormem Getöse und von noch mehr Licht, das hereinströmte.
    Und dann ließ sie los.
     

Epilog - 2007
     
    Die Presse überschlug sich in ihrer Berichterstattung. Trotz des traurigen Ausgangs wurden die Ermittlungen und die Aufklärung des Falles Merete Lynggaard als Erfolgsgeschichte gehandelt. Piv Vestergård von der Dänemarkpartei war außerordentlich zufrieden und sonnte sich überall als diejenige, die verlangt hatte, das Sonderdezernat Q einzurichten. Gleichzeitig nutzte sie jede Gelegenheit, ihre politischen Gegner herabzusetzen.
    Das war nur einer der Gründe für Carls leichten Nervenzusammenbruch.
    Dreimal ins Krankenhaus, um sich den Schrot aus dem Bein zupfen zu lassen, eine Verabredung mit Mona Ibsen, die er selbst absagte. Zu mehr war es nicht gekommen.
    Jetzt waren sie zurück in ihrem Büro unten im Keller. Zwei kleine Plastiktüten hingen an der Pinnwand, beide voller Schrot. Fünfundzwanzig in Carls und zwölf in Assads. In der Schreibtischschublade lag ein Springmesser mit einer zehn Zentimeter langen Klinge. Im Lauf der Zeit würde der ganze Krempel wohl rausfliegen.
    Sie passten gegenseitig auf einander auf, er und Assad. Carl, indem er Assad kommen und gehen ließ, wie er wollte, und Assad, indem er dafür sorgte, dass wieder so etwas wie Leben in die Kellerräume einzog. Nach drei Wochen Stillstand mit Zigaretten, Assads Kaffee und dieser Katzenjammermusik im Hintergrund griff sich Carl endlich eine der Akten von dem Stapel, der in der Ecke lag, und blätterte darin.
    Es gab mehr als genug zu tun.
    »Gehst du heute Nachmittag in den Stadtpark, Carl?«, fragte Assad ihn von der Tür her.
    Carl sah ihn träge an.
    »Du weißt schon, 1. Mai. Viele Menschen auf den Straßen und Fest und Farben. Sagt man das nicht so?«
    Er nickte. »Später vielleicht. Aber du kannst gern hingehen, Assad, wenn du willst.« Er sah auf die Uhr. Es war zwölf. In alten Tagen war ein halber freier Tag für alle ein verbrieftes Recht gewesen.
    Aber Assad schüttelte den Kopf. »Das ist nichts für mich, Carl. Zu viele Leute, denen ich gar nicht begegnen will.«
    Carl nickte. Das war seine Sache. »Morgen sehen wir uns den Stapel hier an«, sagte er und schlug mit der flachen Hand darauf. »Was hältst du davon?«
    Die Lachfältchen um Assads Augen vertieften sich, sodass sich beinahe das Pflaster an der Schläfe gelöst hätte. »Gute Idee, Carl!«, sagte er.
    Dann klingelte das Telefon. Lis war dran, das Übliche. Der Chef wollte ihn in seinem Büro sehen.
    Carl zog die unterste Schreibtischschublade auf und nahm eine Plastikaktenmappe heraus. Er hatte das Gefühl, als würde er sie dieses Mal wirklich brauchen.
    »Wie geht' s, Carl?« Es war in dieser Woche schon das dritte Mal, dass Marcus Jacobsen Gelegenheit hatte, Carls Antwort auf diese Frage zu hören.
    Der zuckte die Achseln.
    »An welchem Fall arbeitest du jetzt?«
    Wieder antwortete er mit einem Achselzucken.
    Der Chef setzte die Halbbrille ab und legte sie auf den Papierstoß vor sich. »Der Staatsanwalt hat heute mit dem Anwalt von Ulla Jensen und ihrem Sohn einen Vergleich abgeschlossen.«
    »Aha.«
    »Acht Jahre für die Mutter und drei für den Sohn.« Carl nickte. Wie nicht anders zu erwarten.
    »Ulla Jensen landet wahrscheinlich in einer psychiatrischen Anstalt.«
    Wieder nickte er. Ihr Sohn würde ihr sicher bald folgen.
    Wie sollte dieser arme Kerl jemals mit heiler Haut aus einem Gefängnis
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