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Erbarmen

Erbarmen

Titel: Erbarmen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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nicht sein. Bei Festnahmen wurde immer Hardy vorgeschickt, wenn den Tätern ihre Rechte vorgelesen wurden. Dann mussten die Typen ihren Kopf in den Nacken legen, was auf die meisten Eindruck machte.
    In dieser Situation war Hardys Größe kein Vorteil. Soweit Carl es beurteilen konnte, war es nicht möglich, seine langen, gelähmten Beine richtig auszustrecken. Carl hatte der Krankenschwester vorgeschlagen, das Fußende des Betts abzumontieren, aber das überstieg offenbar ihre Kompetenz oder Fähigkeiten.
    Hardy schwieg dazu. Sein Fernseher lief Tag und Nacht.
    Menschen gingen in seinem Zimmer ein und aus, aber er reagierte nicht darauf. Er lag einfach nur in der Klinik für Wirbelsäulenverletzungen in Hornbæk und versuchte zu leben. Kaute das Essen, das man ihm vorsetzte. Zuckte manchmal leicht mit den Schultern - das Einzige vom Hals an abwärts, worüber er noch Kontrolle hatte. Regungslos ließ er die Krankenschwestern sich mit seinem unhandlichen gelähmten Körper abquälen. Wenn sie ihn im Schritt wuschen, Kanülen in ihn steckten und den Beutel mit den Ausscheidungen auswechselten, starrte er nur stumm an die Decke. Nein, Hardy sprach kaum noch.
    »Ich habe wieder im Präsidium angefangen«, sagte Carl und zog Hardys Bettdecke zurecht. »Die arbeiten unter Hochdruck an dem Fall, aber bislang gibt es keine Spur. Ich bin aber sicher, dass sie ihn kriegen; den, der auf uns geschossen hat.«
     
Hardys schwere Augenlider zuckten nicht einmal. Er würdigte weder Carl eines Blickes noch den aufgeregten Nachrichtensprecher von TV 2, der über die Tumulte bei der Räumung des Jugendzentrums berichtete. Ihm war alles egal. Nicht einmal die Wut war geblieben. Carl verstand ihn besser als irgendwer sonst. Wenngleich er es Hardy nicht zeigte: Auch ihm war längst alles vollkommen scheißegal. Wer auf sie geschossen hatte, interessierte ihn einen Dreck. Was würde es auch ändern? Waren es nicht die, dann waren es eben die anderen gewesen. Da draußen lief genug von diesem Abschaum herum.
    Er nickte der Krankenschwester, die mit einem frischen Tropf hereinkam, kurz zu. Als er letztes Mal dagewesen war, hatte sie ihn gebeten, draußen zu warten, während sie Hardy fertig machte. Das war nicht gut angekommen, und man konnte spüren, dass sie es sich gemerkt hatte.
    »Ach, Sie hier?«, sagte sie spitz und schaute auf die Uhr.
    »Ja, passt mir besser vor der Arbeit. Was dagegen?« Wieder sah sie auf die Uhr.
    Die Schwester nahm Hardys Arm und begutachtete die Kanüle für den Tropf auf dem Handrücken. Dann ging die Tür wieder auf, und der Physiotherapeut kam herein. Auf ihn und seine Kollegen wartete harte Arbeit.
    Carl klopfte auf die Bettdecke, unter der sich Hardys rechter Arm abzeichnete. »Die hier wollen dich gern für sich haben. Ich hau dann mal ab, Hardy. Morgen komme ich ein bisschen früher, dann können wir reden. Mach's gut.«
    Der scharfe Geruch von Medizin hing auch im Flur. Er lehnte sich an die Wand. Das Hemd klebte ihm am Rücken, und die Flecken unter den Armen breiteten sich im Stoff aus. Seit Amager brauchte es dazu nicht viel ...
     
    Hardy und Carl und Anker waren wie gewöhnlich vor allen anderen am Tatort angekommen. Sie waren schon in ihren weißen Overalls, hatten die Masken vor dem Mund, die Handschuhe und das Haarnetz übergestülpt, alles Routine. Seit man den alten Mann mit dem Nagel im Kopf gefunden hatte, war kaum eine halbe Stunde vergangen. Die Fahrt vom Präsidium bis hinaus nach Amager war nicht der Rede wert gewesen.
    An dem Tag hatten sie ausreichend Zeit vor der Leichenschau. Soweit sie wussten, war der Chef der Mordkommission wegen irgendeiner Strukturreformkonferenz beim Polizeipräsidenten. Aber er würde sicher bald mit dem Amtsarzt aufkreuzen. Nichts konnte Marcus Jacobsen lange von einem Tatort fernhalten.
    »Rund ums Haus ist für die Kriminaltechniker nicht viel zu holen«, sagte Anker und stocherte mit dem Fuß in der Erde, die nach dem nächtlichen Regen ganz aufgeweicht war.
    Carl sah sich um. Abgesehen von den Holzschuhen des Nachbarn waren nicht viele Fußabdrücke rings um die Baracke zu sehen, eine von denen, die das Militär in den Sechzigern verkauft hatte. Damals hatten die Baracken sicher noch etwas solider ausgesehen, aber jetzt war das Haus ziemlich verfallen. Die Dachsparren hingen durch, die Dachpappe war voller Risse, an der gesamten Vorderfront hatte die Feuchtigkeit ihre Spuren hinterlassen. Selbst das Namensschild, auf das jemand mit schwarzem Filzstift
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