Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erbarmen

Erbarmen

Titel: Erbarmen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
Vom Netzwerk:
Kopf war voller verzweifelter Gedanken. Die Kollegen fühlten seinen Puls und fuhren mit allen dreien weg. Erst im Krankenhaus schlug Carl die Augen auf. Sein Blick war tot, hatte man gesagt.
    Man glaubte, es sei der Schock. Aber es war die Scham.
    »Ist alles okay mit Ihnen?« Ein Typ im Kittel, etwa Mitte dreißig, trat zu ihm.
    Carl drückte sich von der Wand ab. »Ich bin gerade bei Hardy Henningsen gewesen.«
    »Hardy, ach ja. Sind Sie ein Angehöriger?«
    »Nein, ich bin sein Kollege. Ich war Hardys Gruppenleiter bei der Mordkommission.«
    »Aha.«
    »Wie ist seine Prognose? Wird er wieder gehen können?«
    Der junge Arzt trat einen Schritt zurück und sah Carl plötzlich abweisend an. Seine Meinung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben: Es ging Carl nichts an. »Ich kann leider nur nahen Angehörigen Auskunft geben. Das werden Sie doch bestimmt verstehen.«
    Carl packte den Arzt am Arm. »Hören Sie mal: Ich war dabei, als es passierte, begreifen Sie das? Einer unserer Kollegen wurde getötet. Wir waren zusammen dort - meinen Sie nicht, dass ich ein Recht darauf habe zu erfahren, wie es mit Hardy weitergeht? Also noch einmal: Wird er wieder gehen können?«
    »Tut mir leid.« Der Arzt schob Carls Hände weg. »Über Ihre Dienststelle werden Sie sicher über das Notwendigste zu Hardys Zustand unterrichtet werden. Aber ich kann Ihnen keine Informationen geben. Wir müssen jeder unsere Arbeit tun, jeder an seinem Platz.«
    Dieser leicht überhebliche Unterton, die affektierte Aussprache, die leicht gehobenen Augenbrauen des Arztes - das alles war in diesem Moment wie der Tropfen Benzin auf Carls Selbstentzündungsprozess. Er hätte dem Typen am liebsten eins in die Fresse gehauen, aber er packte ihn nur fest am Kragen und zog ihn sich dicht vors Gesicht. »Ja, wir machen unsere Arbeit. Wenn deine Tochter nicht um zweiundzwanzig Uhr zu Hause ist, wie sie sollte, dann rennen wir los, um nach ihr zu suchen. Und wenn deine Frau vergewaltigt wird oder dein cremefarbener Scheiß-BMW nicht auf dem Parkplatz steht, dann stehen wir auf der Matte. Wir sind immer da, wenn du uns brauchst, und ich frage jetzt ein letztes Mal: Wird mein Kollege Hardy wieder gehen können?«
    Der Arzt atmete heftig, als Carl den Kragen losließ. »Ich fahre Mercedes, und ich bin nicht verheiratet.« Der Triumph stand ihm ins Gesicht geschrieben: Er hatte Carls Ebene verlassen und dessen Strategie durchkreuzt. Das hatte er vermutlich in einem Psychologiekurs gelernt, den sie zwischen die Anatomievorlesungen gequetscht hatten. »Ein kleines bisschen Humor - und der Feind ist entwaffnet.« Deeskalation nannte man das jetzt. Carl war nicht sonderlich beeindruckt.
    »Für einen Facharzt in Psychologie reicht das aber noch nicht. Fehlt noch das Kapitel über Arroganz, du kleiner Scheißer«, sagte Carl und schubste den Arzt von sich weg.
    Sie warteten in seinem Büro auf ihn, der Chef der Mordkommission und sein Stellvertreter. Verdammt, hatte sich die Beschwerde des Arztes schon bis hierher fortgepflanzt? Er musterte sie kurz. Nein. Sie sahen eher so aus, als hätte sich irgendeine glorreiche Idee ihrer Buchhaltergehirne bemächtigt. Die Blicke, die sie austauschten ... Oder stank das alles mehr nach Krisenintervention ? Wollten sie ihn noch mal zwangseinweisen lassen, damit er mit einem Psychologen über seine »Posttraumatische Belastungsstörung« philosophierte? Durfte er noch mal in den Genuss eines Spezialisten kommen, der ihn eindringlich anschaute, in Carls dunkle Ecken und Winkel vordringen wollte, um aufzudecken, was unausgesprochen geblieben war? Das konnten sie sich sparen, Carl wusste es besser. Von seinem Problem konnte man sich nicht mit Reden befreien. Das hatte eine zu lange Vorgeschichte. Der Vorfall auf Amager hatte dem Ganzen nur noch die Krone aufgesetzt.
    Sie konnten ihn alle mal.
    »Tja Carl«, sagte der Chef und nickte zu seinem leeren Stuhl hin. »Lars und ich haben hin und her überlegt. Du merkst selbst, dass es so nicht läuft. Und wir glauben, dass jetzt der Zeitpunkt für einen Schnitt gekommen ist.«
    Das klang ja, als wäre er gefeuert. Carl begann, mit den Fingern auf die Tischkante zu trommeln. Er sah über den Kopf seines Chefs hinweg. Wenn sie ihn wirklich feuern wollten, würde das gar nicht so leicht sein.
    Carl sah aus dem Fenster hinüber zum Tivoli, wo sich die Wolken drohend zusammenballten. Wenn sie ihn feuerten, würde er schnell aufbrechen müssen, bevor es anfing zu schütten. Was sollte er da noch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher