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Erbarmen

Erbarmen

Titel: Erbarmen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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ihren Bruder. »Hallo Uffe! Ich bin wieder da!« Immer dasselbe Ritual. Sie wusste, dass Uffe das Licht ihrer Scheinwerfer schon gesehen hatte, als sie über den Hügel fuhr, aber er wartete geduldig auf sie, bis sie so weit war.
    Sie hockte sich vor ihn und versuchte, Blickkontakt aufzunehmen. »Hallo du da, sitzt du vorm Fernseher und siehst Nachrichten und machst Trine Sick an?« Er kniff die Augen zusammen, sodass ihm die Lachfalten bis zum Haaransatz reichten, löste den Blick aber nicht vom Bildschirm.
    »Ja, ja, du bist mir ein Schlimmer.« Sie nahm seine Hand. »Aber du magst Lotte Mejlhede noch lieber, oder? Glaubst du denn, ich weiß das nicht?« Jetzt sah sie, wie sich seine Lippen zu einem breiten Lachen verzogen. Der Kontakt war hergestellt. Klar, ganz tief in seinem Innern war er noch immer Uffe. Und Uffe hatte immer genau gewusst, was er wollte.
    Sie wandte sich dem Fernseher zu und sah die beiden letzten Beiträge der Nachrichtensendung mit ihm an. Der eine handelte von der Aufforderung des Ernährungsrates, industriell hergestellte Trans-Fettsäuren zu verbieten, der andere von einer hoffnungslosen Kampagne, die der dänische Geflügelzüchterverband gegen staatliche Subventionen führte. Sie kannte die Hintergründe beider Themen mehr als gut: Das waren zwei arbeitsintensive Nächte für sie gewesen.
    Sie drehte sich zu Uffe um und fuhr ihm durchs Haar, sodass auf der Kopfhaut die lange Narbe zu sehen war. »Nun komm, du fauler Kerl, lass uns zusehen, dass wir was zu essen bekommen.« Mit der freien Hand nahm sie ein Sofakissen und haute es ihm an den Hinterkopf, bis er vor Vergnügen heulte und mit Armen und Beinen fuchtelte. Dann ließ sie seine Haare los und hüpfte wie eine Bergziege über das Sofa und durch das Wohnzimmer bis zur Treppe. Das verfehlte nie seine Wirkung. Johlend und juchzend vor Lebenslust und Energie folgte er ihr dicht auf den Fersen. Wie zwei Bahnwaggons mit Triebfedern zwischen sich donnerten sie nach oben in den ersten Stock und wieder nach unten, hinaus zur Garage, zurück ins Wohnzimmer und schließlich in die Küche. Gleich würden sie das Essen, das die Familienhelferin vorbereitet hatte, vor dem Fernseher essen. Gestern hatten sie Mr Bean gesehen. Vorgestern Charlie Chaplin. Heute würden sie wieder Mr Bean sehen. Uffes und Meretes Videosammlung richtete sich ausschließlich nach dem, was Uffe gern sah. Meist hielt er eine halbe Stunde durch, ehe er einschlief. Dann deckte sie ihn zu und ließ ihn auf dem Sofa schlafen, bis er irgendwann in der Nacht von sich aus ins Schlafzimmer kam. Dort nahm er ihre Hand und grunzte ein bisschen, dann schlief er im Doppelbett neben ihr wieder ein. Wenn er endlich fest schlief, machte sie das Licht an und bereitete sich auf den nächsten Tag vor.
    So vergingen Abend und Nacht. Denn so liebte es Uffe - ihr geliebter kleiner Bruder. Lieber, stummer Uffe.
     

Kap 6 - 2007
     
    An der Tür hing vermutlich ein Messingschild, auf dem »Dezernat Q« stand, aber die Tür war ausgehängt und lehnte nun an den Heizungsrohren, die sich durch die endlosen Kellergänge zogen. Zehn halb volle Eimer mit Farbe standen noch immer in dem Raum, der jetzt wohl als Büro fungieren sollte, und verströmten diesen strengen Geruch. An der Decke hingen vier Neonröhren, die einem schon nach kurzer Zeit bohrende Kopfschmerzen bescherten. Immerhin waren die Wände trocken. Nur beim Blick auf die Farbe musste man zwangsläufig an rumänische Krankenhäuser denken.
    »Vivat Marcus Jacobsen«, brummte Carl und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen.
    Auf den letzten hundert Metern des Kellerflures war er keiner Menschenseele mehr begegnet. Dort, wo man sein Büro eingerichtet hatte, gab es weder Menschen noch Tageslicht noch Luft - nichts, was die Assoziation mit einem Gulag vertrieben hätte. Dieser Ort hier war der Arsch der Welt.
    Er blickte auf seine beiden funkelnagelneuen Computer und das Bündel Leitungen, das zu ihnen führte. Anscheinend hatten sie die Datenübertragungswege aufgespalten, sodass das Intranet mit dem einen Computer und der Rest der Welt mit dem zweiten verbunden war. Er tätschelte Computer Nummer zwei. Wenn er wollte, könnte er hier also stundenlang sitzen und im Internet surfen. Keinerlei Vorschriften und störende Regeln über sicheres Surfen und Schutz des zentralen Servers, das war doch schon mal was. Er sah sich um nach irgendetwas, das sich als Aschenbecher benutzen ließ, und klopfte eine Grøn Cecil aus der Packung.
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