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Engelsfluch

Engelsfluch

Titel: Engelsfluch
Autoren: Joerg Kastner
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flüsterte Alexander. »So ziemlich das schlimmste Exemplar von Mensch, das man sich vorstellen kann.«
    »Folgt mir nun zum Engelssee!«, forderte Lavagnino und schritt, flankiert von den Weihrauch verteilenden Messdienern, auf den Ausgang zu. Die Kardinäle, die Kleriker und alle anderen schlossen sich ihm an, auch die Gefangenen, wofür die Bewaffneten sorgten.
    Je länger sie unterwegs waren, desto wärmer wurde es, und Enrico erinnerte sich an die Hitze, die der See in seinem Traum ausgestrahlt hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es im gesamten Höhlensystem, soweit er es kennen gelernt hatte, warm war, obwohl er nirgendwo eine Heizung gesehen hatte. Bald schwitzte er, und den anderen erging es ebenso. Aber die Hitze war nicht das eigentlich Beunruhigende. Er fühlte eine seltsame Beklemmung, die mit jedem Schritt zunahm, und in seinem Kopf war ein Raunen ähnlich der Stimme aus dem Traum. Er konnte die Worte nicht verstehen, aber er hatte den Eindruck, dass es viele Stimmen waren. Die der gefallenen Engel, die ihre Befreier begrüßten? Als er seinen Vater ansah, sagte der: »Auch ich höre es. Fürchte dich nicht, Enrico! Denk an den Engel aus unserem Traum! Wenn wir stark sind, kann er nicht zum Dämon werden.«
    Tomás Salvati wirkte stark und zuversichtlich. Enrico hoffte, dass sein Vater ihm nicht nur Mut machen wollte. Custos berührte Enricos Ellbogen. »Wir sind zu dritt, und einer wird dem anderen beistehen.«
    Die Prozession endete in einem gigantischen Felsendom, in dem es fast so heiß war wie in einer Sauna. Binnen Sekunden klebten Enricos Kleider an seinem Leib. Große Scheinwerfer erleuchteten den Raum, konnten aber kaum die Ursache für diese Hitze sein.

    Überlebensgroße Steinengel bewachten diesen Ort, doch von ihnen lächelte keiner. Alle machten ernste Gesichter, trugen Schwerter, Lanzen oder Fackeln und blickten zu jenem Abgrund, an den Lavagnino nun trat. Enrico hielt die Figuren für Wächter über die Gefallenen.
    Die Menschen verteilten sich in dem Felsendom wie nach einem geheimen Plan. Ferrio und die Kardinäle traten nach vorn, um sich links und rechts neben Lavagnino zu stellen. Ferrio wandte sich um und gab den Wachen einen Wink. Drei Wächter führten Enrico, seinen Vater und Custos nach vorn, während die übrigen Bewaffneten bei Vanessa, Elena und Alexander blieben.
    Jeder Schritt fiel Enrico schwer. Er wollte stehen bleiben, aber die harte Mündung einer Maschinenpistole in seinem Rücken trieb ihn voran. Die Hitze und mehr noch seine innere Beklemmung ließen ihn kaum atmen. Sein Vater und Custos wirkten gefasster, aber auch ihnen lief der Schweiß in Strömen über das Gesicht.
    Als sie den Abgrund erreichten, blickten sie in die Tiefe.
    Ungefähr hundert Meter unter ihnen war der See, der im Licht der Scheinwerfer zwischen Smaragdgrün und Stahlblau oszillierte. Ansonsten lag er absolut still da. Kein Wind kräuselte die Wasseroberfläche oder wühlte sie gar auf. Aber Enrico machte sich keine Illusionen. Aus seinem Traum wusste er, dass der See von einer Sekunde zur anderen aufbrechen und dampfende Gischt versprühen konnte.
    Sein Vater ergriff Enricos rechte Hand und drückte sie beruhigend. Enrico bedachte ihn mit einem verkrampften Lächeln und bemühte sich, die Panik, die in ihm aufsteigen wollte, zu unterdrücken. Er durfte sich nicht von der Erinnerung an seinen Traum, von der Angst so vieler Nächte, unterkriegen lassen. Vielleicht, versuchte er sich einzureden, war dieser seltsame Ort, der Engelssee, gar nicht der See aus seinem Traum. Im Traum hatte der See eine andere Form gehabt, waren die Felsen viel zerklüfteter gewesen. Aber andererseits sah im Traum selten etwas so aus wie in der Realität. Custos wandte sich an Lavagnino. »Hören Sie auf damit, noch ist es Zeit! Sie gehen den falschen Weg, Lavagnino! Wenn Sie die gefallenen Engel wirklich erwecken, werden Sie großes Unheil über die Welt bringen. Ist Ihnen das Erdbeben keine Warnung gewesen?«
    »Die Macht, die in diesem See schläft, ist nicht böse«, sagte der Kardinalpräfekt. »In den richtigen Händen vermag sie Gutes zu bewirken. Aber man muss stark im Glauben sein, um mit ihr umzugehen.«
    »Sind Sie das, Lavagnino, stark im Glauben?«
    Wortlos legte der Leiter der Glaubenskongregation sein Gewand ab. Darunter trug er ein Büßerhemd aus grober Wolle, das er hochschob, bis sein nackter Rücken zu sehen war. Dort gab es kaum einen heilen Flecken Haut, nur Wunden über Wunden, alte vernarbte,
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