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Engelsfluch

Engelsfluch

Titel: Engelsfluch
Autoren: Joerg Kastner
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fielen kleinere und größere Felsstücke herab. Stoß um Stoß erschütterte das Felsgestein, als wollten die Gefallenen gegen den Abbruch der Zeremonie protestieren, die ihnen die Befreiung aus dem Kerker versprochen hatte. Vielleicht wollten sie die Menschen bestrafen, von denen sie sich im Stich gelassen fühlten. Enrico fragte sich, ob es vor zweitausend Jahren in den Bergen von Borgo San Pietro ähnlich gewesen war, als die alte Etruskerstadt mitsamt dem Heiligtum unterging.
    Viele der Flüchtenden wurden von dem Felsregen getroffen, schrien auf und sanken verletzt zu Boden. Hässliche Szenen spielten sich ab, als die Fliehenden versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Die meisten von ihnen hatten angesichts der unmittelbaren Lebensgefahr jede christliche Nächstenliebe vergessen. Sie stießen einander beiseite, und wer zu Boden fiel, wurde von den anderen einfach überrannt. In den Pulk der Dahinstürzenden eingequetscht, musste Enrico hilflos mit ansehen, wie ein zehnjähriger Junge, einer der Messdiener, zu Tode getrampelt wurde. Binnen Sekunden verwandelte sich der Kopf des Jungen in eine breiige Masse aus Knochensplittern, Blut und Gehirn. Mitgerissen von den anderen, verlor er das Kind aus den Augen. Er konnte sich nur damit trösten, dass für den Jungen jede Hilfe zu spät gekommen wäre.
    Mehrmals kamen sie zu Abzweigungen, und Enrico glaubte, die Flucht würde kein Ende nehmen. Er versuchte, in der Nähe seiner Freunde zu bleiben. Aber erst verlor er Alexander und Elena aus den Augen, dann auch seinen Vater und Custos.
    Stehen zu bleiben, zu warten und zu suchen – das alles war unmöglich. Die Menge drängte weiter, und er war ein Teil von ihr. Die elektrische Beleuchtung fiel aus, und für kurze Zeit drängten sich die Menschen in völliger Finsternis. Vereinzelt leuchteten Taschenlampen auf, und in deren unstetem Licht wurde die Flucht fortgesetzt.
    Endlich, nach zwanzig oder dreißig Minuten tauchte vor ihnen ein Licht auf, das größer und heller wurde. Tageslicht, das mit Jubelrufen begrüßt wurde. Die Menschen liefen ins Freie und ließen sich dort erschöpft ins Gras fallen. Als Enrico unter freiem Himmel stand, blickte er sich besorgt zum Berg um.
    Einzelne Steine kamen einen Abhang herabgerollt.
    »Die Gefahr ist noch nicht vorüber!«, rief er. »Wir sollten weiterlaufen, so schnell es geht. Wenn wir Pech haben, stürzt der ganze Berg ein!«
    In seiner Nähe stand einer der Kardinäle. Er hatte Enricos Warnung gehört und ermahnte die Menschen ebenfalls, nicht so nah am Berg zu verharren. Wieder setzte sich die Menge in Bewegung, aber diesmal nicht so dicht gedrängt. Enrico konnte innehalten und sich umsehen. Er entdeckte Alexander und Elena und ein Stück hinter ihnen auch Custos. Nur sein Vater schien verschwunden zu sein. Enricos Herz klopfte schneller, und er wollte schon zum Ausgang des Höhlensystems zurücklaufen, da taumelte Tomás Salvati ans Tageslicht. Er hatte eine erschöpfte Frau untergehakt, die aus einer Stirnwunde blutete. Enrico eilte zu ihnen und stützte die Frau an der anderen Seite. Sie gehörten zu den Letzten, die von dem etwa zwei mal zwei Meter großen Felsloch wegstrebten.
    Gerade noch rechtzeitig. Hinter ihnen krachte Stein um Stein hernieder. Ein heftiges Erdbeben warf Enrico, seinen Vater und die Frau zu Boden. Ein Krachen, lauter als jeder Gewitterdonner, schlug gegen ihre Trommelfelle. Sekunden später um hüllte sie eine dichte Staubwolke, raubte ihnen die Sicht und den Atem.
    Als der Staub sich verzog, hatte auch das Beben der Erde aufgehört. Enrico wischte mit dem Handrücken über seine staubverklebten Augen und sah, dass das Felsloch unter einem großen Geröllhaufen verschüttet war. Sein Vater hustete und blickte ebenfalls zu den herabgefallenen Felsbrocken, die den Höhleneingang versperrten – er sah zufrieden aus.

Epilog
    Der Monte Cervialto war nicht eingestürzt, und am Golf von Neapel war es auch zu keinem zweiten schweren Erdbeben gekommen. Aber der Eingang zum alten Heiligtum der Etrusker lag hinter der Steinlawine verschüttet. Papst Custos und Tomás Salvati wollten alles dafür tun, dass dieser Eingang für alle Zeiten verschlossen blieb. Wahrscheinlich war es Custos’
    Einsatz zu verdanken, dass das betreffende Gebiet am Monte Cervialto schon einen Tag später zur militärischen Sperrzone erklärt wurde.
    »Wir sind dem Engelsfluch nur knapp entronnen«, sagte Salvati zu Enrico. »Und wir sollten alles dafür tun, dass die Gefahr
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